Das NSC Document 68

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Wir sind bei dem angekommen, was Tennessee Williams einmal einen Mond des Stillstands nannte. Als ich ihn fragte, was diese Wendung, von einer weiblichen Rolle in einem seiner Stücke gebraucht, bedeuten solle, beschied er mich hochmütig, es handle sich um «die wörtliche griechische Bedeutung von «Menopause», Ich erwiderte, das Wort Mond käme keineswegs von menses (was auf Lateinisch, nicht Griechisch, «Monat» bedeutet). «Und was heißt Mond dann auf Lateinisch ?», fragte er argwöhnisch. Luna, sagte ich ihm und wies noch darauf hin, wieviel Spaß er mit der Ableitung von Lunatic haben könne, doch er seufzte nur und wechselte das Thema. Doch zum Zeitpunkt der Konferenz von Madrid über die Osterweiterung der NATO schien «ein Mond des Stillstands» die treffende Formulierung für das veränderte Lebensgefühl in einem Imperium zu sein, das plötzlich keinen Feind und keine erkennbare Funktion mehr hat.

Während wir uns nach Kräften in unserem Vergnügungspalast amüsierten, wurde draußen, ohne dass uns jemand über das Warum und Wozu aufgeklärt hätte, der Nordatlantikpakt geschmiedet. Am 17. März 1948 begründete der Vertrag von Brüssel die Allianz von Großbritannien, Frankreich und den Beneluxstaaten, der sich am 23. März die USA und Kanada anschlossen. Die treibende Kraft hinter der NATO waren von Anfang an die Vereinigten Staaten, deren Außenpolitik seit den Tagen George Washingtons vor allem anderen darauf abzielte, das zu verhindern, was Alexander Hamilton «strangulierende Bündnisse» genannt hatte. Nun, da angeblich die Russen vor der Tür standen, ersetzten wir unsere alte Republik durch den mit dem National Security Act geschaffenen Staatssicherheitsstaat und etablierten uns als die größte europäische Militärmacht westlich der Elbe. Keine Rede mehr von einem Deutschland in den alten Grenzen: Jetzt drangen wir auf eine dauerhafte Teilung des Landes in die drei Westzonen einerseits und die sowjetisch besetzte Zone im Osten. Gleichmütig brachen wir jede Vereinbarung, die wir mit unserem ehemaligen Verbündeten und jetzigen kommunistischen Erbfeind geschlossen hatten. Wer sich für Einzelheiten interessiert, findet in Carolyn Eisenbergs Studie "Drawing the Line (The American Decision to Divide Germany, 1944-49)" ein meisterhaftes Porträt eines Imperiums, das sich teils blindlings und teils mit höchstem Geschick formiert, indem es erst seine Verbündeten und dann seine ehemaligen Gegner wie Deutschland, Japan und Italien zu Vasallenstaaten macht, die in allen Dingen seinem militärischen und wirtschaftlichen Diktat unterworfen sind.

Obwohl die Sowjets weiterhin an den Absprachen von Jalta und sogar von Potsdam festhalten wollten, hatten wir einseitig entschieden, die westdeutsche Wirtschaft wieder aufzubauen, um das Land nach erfolgter Wiederbewaffnung in unser westliches Europa einzubinden, um auf diese Weise die Sowjetunion - die sich noch längst nicht vom Zweiten Weltkrieg erholt hatte und keine nuklearen Waffen besaß - weiter zu isolieren. Es war wiederum Acheson, der höchst elegant die Lügen begründete, die er dem Kongress und dem auf seine zehnminütige Aufmerksamkeitsspanne reduzierten Durchschnittsamerikaner auftischen musste: «Wenn wir unsere Argumente stark vereinfacht haben, so unterscheiden wir uns hierin nicht von anderen Erziehern und hatten auch kaum eine andere Wahl ... Das Komplexe muss den klaren Worten weichen, die Nuance und die feine Unterscheidung dem Direkten, fast Brutalen, wenn man seine Botschaft an den Mann bringen will.» Nach dieser Maxime wurden zwei Generationen von Amerikanern von ihren Regierenden entmündigt, bis endlich das Wort «Kommunismus» genügte, um einen antrainierten orgasmischen Reflex auszulösen, während das Hirn abschaltete.

Was unseren «Feind» anbelangte, so schrieb Botschafter Walter Bedell Smith — ein ehemaliger General mit ausgeprägt schlichten Ansichten - seinem ehemaligen Boss, General Eisenhower, im Dezember 1947 aus Moskau, wo eine Konferenz zur Regelung der offenen europäischen Fragen stattfand: «Die Schwierigkeit, unter der wir hıer arbeiten, besteht darin, dass wir im Gegensatz zu unserer offiziellen Position nicht willens sind, die staatliche Einheit Deutschlands zu Bedingungen wiederherzustellen und zu akzeptieren, denen auch die Russen zustimmen würden. Dabei schienen sie den meisten unserer Forderungen gegenüber aufgeschlossen zu sein.» Daher Stalins Enttäuschung, die schließlich zur berühmten Blockade der Westsektoren von Berlin führte, die nur durch die von General Lucius Clay organisierte Luftbrücke überwunden werden konnte. Carolyn Eisenberg schreibt: «Nach der Verhängung der Blockade tischte Truman der Öffentlichkeit eine einfache Geschichte von skrupellosen Russen auf, die ganz Berlin vereinnahmen wollten und dafür alle zu Kriegszeiten getroffenen Vereinbarungen brachen. Was der Präsident verschwieg, war, dass die Vereinigten Staaten Jalta und Potsdam den Rücken gekehrt hatten und, trotz der Vorbehalte vieler Europäer, die Bildung eines westdeutschen Teilstaates favorisierten; und dass die Sowjets die Blockade verhängt hatten, um eine Teilung zu verhindern.» Es war die ideale Politik für den Vergnügungspalast, tragikomisch bis zum Äußersten.

Präsident Truman ging mit der Wahrheit um wie ein Zerrspiegel im Spiegelkabinett. Aber schließlich hatte er auch nicht in erster Linie Deutschland im Kopf, sondern die bevorstehende Wahl im November 1948, die für ihn von überragender persönlicher Bedeutung, doch für den Fortgang der Weltgeschichte völlig bedeutungslos war. Ihm war klar, dass die wenigen Amerikaner, die sich noch an George Washington erinnerten, etwas an unserem NATO-Bündnis auszusetzen haben könnten, und so erhielt Außenminister Acheson die Weisung, bis zum Februar 1949, nach der Wahl, zu warten, ehe er dem Kongress unsere Verwandlung von einer westatlantischen Republik in eine europäische Hegemonialmacht präsentierte, die im fernen Osten von unserem asiatischen Imperium mit dem besetzten Japan als Herzstück und dem bald folgenden NATO-Pendant des ASEAN-Paktes symmetrisch ergänzt wurde.

Die Argumente für oder gegen ein amerikanisches Weltreich wurden niemals angemessen diskutiert, da das wenige, was an öffentlicher Debatte stattfand, sich nur auf die angeblichen Absichten der Sowjetunion konzentrierte, den Welteroberungsplänen Hitlers und der Nazis nachzueifern, denen erst die Sowjets selber (mit amerikanischer Hilfe, die für Stalin verdächtig spät kam) einen Riegel vorgeschoben hatten.

Am 12. März 1947 verkündete Truman in einer Rede vor dem Kongress die Politik der Eindämmung des sowjetischen Expansionsdrangs, die später als Truman-Doktrin bekannt wurde: Der Staat, der zwei Jahre zuvor noch unser Verbündeter gewesen war, wurde zum Feind erklärt. Der aktuelle Anlass war ein Bürgerkrieg in Griechenland, hinter dem die Sowjets stecken sollten. Das konnten wir nicht hinnehmen, denn plötzlich war «es die Politik der Vereinigten Staaten, freien Völkern zu Hilfe zu kommen, die sich der Unterjochung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen». Auf diese Weise machte Truman die ganze Welt zum Interessengebiet der USA. Obwohl die Aufständischen in Griechenland von Bulgarien und Jugoslawien unterstützt wurden, hielten sich die Sowjets heraus. Sıe hofften immer noch, dass Großbritannien, zu dessen Einflusssphäre Griechenland von jeher gehört hatte, für Ordnung sorgen würde. Doch die Briten verfügten weder über die Mittel noch über den Willen und baten die Vereinigten Staaten, in die Bresche zu springen. Hinter - wie meistens — verschlossenen Türen agitierte Acheson den Kongress mit der Leidenschaft eines Jago. Russischer Druck habe «den Balkan an einen Punkt gebracht, an dem ein sehr leicht möglicher sowjetischer Durchbruch drei Kontinente dem Eindringen der Sowjets öffnen» könne. Die Senatoren erbleichten, schnappten nach Luft und überlegten, wie sie einen möglichst großen Teil der «Verteidigungs«-Ausgaben in ihre Bundesstaaten leiten könnten.

Unter den einflussreichen Politikern war der ehemalige Vizepräsıdent Henry Wallace der Einzige, der Trumans «stark vereinfachter» Version der Weltgeschichte zu widersprechen wagte: «Der gestrige 12. März 1947 markiert einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte, (denn) es ist nicht die griechische Krise, mit der wir es zu tun haben, es ist eine Krise Amerikas. Was Präsident Truman gestern unterbreitet hat, bedeutet im Effekt, dass die USA an jeder Grenze Russlands Polizei spielen sollen. Kein Regime ist zu reaktionär für uns, wenn es sich nur der russischen Expansion in den Weg stellt. Kein Land ist uns zu fern, um nicht zum Schauplatz eines Konflikts zu werden, der sich zu einem Weltkrieg ausweiten könnte.» Neun Tage, nachdem Truman dem Kommunismus den Krieg erklärt hatte, führte er den Loyalitätseid für Bundesbedienstete ein. Alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes mussten nunmehr durch Schwur bekunden, dass sie der neuen Ordnung treu ergeben waren. Wieder meldete sich Wallace zu Wort: «Der Erlass des Präsidenten verschafft uns den gläsernen Staatsdiener. Vom Pförtner im Provinzpostamt bis hin zu Kabinettsmitgliedern wird gesiebt und geprüft werden, bespitzelt und taxiert.»

Truman war schmerzlich bewusst, dass viele in Wallace den legitimen Erben des Roosevelt’schen New Deal sahen; auch wurde allgemein erwartet, dass Wallace sich 1948 um die Präsidentschaft bewerben würde. In dieser Situation geriet die Wahrheitsliebe des amtierenden Präsidenten endgültig unter die Räder. «Die Versuche von Lenin, Trotzki, Stalin und Konsorten, dem Amerikanischen Verein der Dummköpfe, wie er von Jos. Davies, Henry Wallace, Claude Pepper und den Schauspielern und Künstlern im Sündenbabel von Greenwich Village repräsentiert wird, und der ganzen übrigen Welt ein X für ein U vorzumachen, ist ungefähr das gleiche wie Hitlers und Mussolinis Behauptung, ihre Staaten wären sozialistisch.» Hau nur drauf, Harry!

Im Gefolge von Trumans jäher Abkehr von der vertrauten amerikanischen Republik entstand ein neuer amerikanischer Staat, dessen Mission es war, das eigene Volk und den ganzen Erdball vor dem Kommunismus zu retten. Die Gestalt, die dieser militarisierte Staat annehmen sollte, war rationaler Diskussion von allem Anfang an entzogen. Bezeichnenderweise bestanden Truman und Acheson darauf, die einschlägigen Sitzungen des außenpolitischen Senatsausschusses unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten. Die Dinge, um die es ging, waren viel zu wichtig, als dass man das Volk, dessen kostbare zehn Minuten mehr und mehr vom Fernsehen absorbiert wurden, damit behelligt hätte. Der republikanische Vorsitzende des Senatsausschusses, der große Umfaller aus Grand Rapids, Michigan, Arthur H. Vandenberg, war gerührt, von den Schöpfern des neuen Imperiums ins Vertrauen gezogen zu werden, wagte aber doch den Hinweis, dass man der amerikanischen Öffentlichkeit ganz gehörig Angst einjagen müsse, um im Kongress die erforderliche Mehrheit zur Finanzierung einer Hochrüstung in einer Zeit zu finden, die wir in unserem immer isolierteren Vergnügungspalast noch immer für eine Friedenszeit hielten. In den Medien war die Meinung einhellig. Henry Luce, der Herausgeber des Time Magazine, sagte es am unverblümtesten: «Gott hat es Amerika beschieden, der weltweite Leuchtturm der Freiheit zu sein.» Abweichler wie Wallace wurden als Kommunisten bezeichnet und spielten im öffentlichen Leben und spätestens ab 1950 auch in der politischen Debatte keine Rolle mehr. Wie ein Geist, dessen Stimme aus der Vergangenheit herüberhallt, mahnte er am 21. Mai 1947: «In unserer blinden Furcht vor dem Kommunismus wenden wir uns heute von den Vereinten Nationen ab. Uns steht ein Jahrhundert der Angst bevor.» Bis jetzt hat er zu exakt fünfzig Prozent Recht behalten.

Am 26. Juli 1947 erließ der Kongress den National Security Act, mit dem der Nationale Sicherheitsrat und die Central Intelligence Agency geschaffen wurde - ersterer noch heute ım Vollbesitz seiner Macht, während letztere als Folge jahrzehntelanger schlechter Arbeit (ganz zu schweigen von all den fröhlichen Verrätern, für die der Country Club von Langley einst eine ideale Tarnung war) mehr auf der Kippe zu stehen scheint denn je. Jahre später vertraute eın desillusionierter, wenn auch nicht weiser gewordener Truman seinem Biografen Merle Miller an, dass die CIA gefährlich aus dem Ruder gelaufen sei und in ihrer ursprünglichen Verfassung gar nicht gegründet hätte werden dürfen. 1947 freilich bestand die Hauptaufgabe der CIA in Europa nicht etwa darin, sowjetischen Umtrieben zu begegnen, sondern in der Überwachung der übrigen NATO-Mitgliedsstaaten. Französische und italienische Gewerkschaften und Presseerzeugnisse wurden finanziell unterstützt und eine Menge geheimes Geld wurde nach Italien gepumpt, um der christlichdemokratischen Partei den Sieg in den Wahlen vom April 1948 zu sichern.

Dean Acheson spielt in "Present at the Creation", einem Erinnerungsbuch, das an Eleganz wettmacht, was ihm an Offenheit fehlt, vorsichtig auf das Dokument 68 des Nationalen Sicherheitsrats an, bei dem es sich um nichts weniger handelt als die 1950 formulierte Grundsatzerklärung für unseren Krieg gegen den Kommunismus. Leider musste er 1969, als er sein Buch schrieb, noch darauf hinweisen, dass das Dokument noch immer der Geheimhaltung unterlag. Erst 1975 wurde es endlich freigegeben. Es enthält sieben Punkte:

1. keine Verhandlungen mit der Sowjetunion — kein Wunder, dass der brüskierte (und von jeher empfindliche) Stalin in Mitteleuropa mit brutaler Gewalt reagierte;

2. Entwicklung der Wasserstoffbombe, damit wir, sobald die Russen mit der Atombombe nachzögen, noch immer einen Vorsprung hätten;

3. schnellstmögliche Verstärkung der konventionellen Streitkräfte;

4. drastische Erhöhung der Einkommensteuer auf bis zu neunzig Prozent, um das alles zu finanzieren;

5. Mobilisierung der Bevölkerung im Kampf gegen die kommunistische Bedrohung von innen durch Propaganda, Loyalitätseide und Bespitzelungsorganisationen wie das FBI, dessen inoffizieller Mitarbeiter Ronald Reagan als Präsident der Screen Actors Guild endlich zeigen konnte, was in ihm steckte, indem er bessere Schauspieler denunzierte;

6. Aufbau eines starken Bündnissystems unter Leitung der USA - der NATO;

7. Unterwanderung der sowjetischen Bevölkerung durch Propaganda und CIA-Aktionen - ein äußerst unklar definierter Punkt, der letztlich Legitimation und Legende für unsere zahllosen, nirgends offiziell geführten Geheimagenten im Auslandseinsatz sein sollte.

So war die Lage, als wir im Januar 1950, nach fünf im Vergnügungspalast verbrachten Jahren, zumindest teilweise ins Freie hinaustraten, das nicht mehr die gewohnte Freiheit war. Erstaunlicherweise befanden wir uns auch schon wieder im Krieg, dieses Mal in Korea. Weil Truman/Acheson sich nicht trauten, beim Kongress eine offizielle Kriegserklärung einzuholen, wurde die Sache als Polizeiaktion der Vereinten Nationen deklariert und ging unter großen Verlusten verloren. Acheson hatte seinen Präsıdenten mit einer Aufstellung von 87 militärischen Abenteuern munitioniert, dıe bereits früher von amerikanischen Präsidenten angezettelt worden waren, ohne dass der Kongress - wie von der alten Verfassung vorgeschrieben - formal den Krieg erklärt hätte. Seit 1950 haben die Vereinigten Staaten vielleicht hundert offene oder verdeckte Kriege geführt. Kein einziger ist von den gewählten Vertretern des amerikanischen Volkes legitimiert worden. Der Kongress hat seine ausdrückliche Hoheit, über Krieg oder Frieden zu entscheiden, kampflos an die Exekutive abgetreten. Und das war das Ende der amerikanischen Verfassung.

Quelle

Das letzte Imperium, Gore Vidal (1997) in Vanity Fair, übersetzt von Thomas Piltz