Der Kampf der Systeme (aus ISBN 978-3451309267)

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Warum es keine gemeinsame Zukunft für alte Energiekonzerne und neue Energiebürger gibt

Welche beiden Systeme der Energieerzeugung gibt es?

Energie ist ein gigantischer Markt. Unter den zehn größten Firmen der Welt mit den höchsten Umsätzen waren laut allseits beachteter Liste der renommierten Fachzeitschrift Fortune im Jahr 2012 sieben Energiekonzerne: Shell, Exxon Mobil, BP sowie drei chinesische und zwei US-amerikanische. In Deutschland sind es vier Konzerne, die den Strommarkt unter sich aufgeteilt haben und ihn auch weiterhin beherrschen wollen: Eon, RWE, Vattenfall und EnBW. Diese Konzerne betreiben wenige, häufig hochsubventionierte Großkraftwerke: Kohle-, Atom- und Gaskraftwerke.

TABELLE (Liste der zehn größten, weltweit dominierenden Energiekonzerne)

Das ist das eine System, das alte System der etablierten Energiewirtschaft. Demgegenüber steht das neue System, das Strom jenseits von Großkraftwerken mithilfe von Erneuerbaren Energien sauber und dezentral erzeugt. Jede Kilowattstunde, die Bürger mit einer Photovoltaikanlage selbst erzeugen, tritt in Konkurrenz mit dem alten System und gefährdet dessen Erlöse.

Was ist das Ziel der Großkonzerne?

Ganz einfach: Ihr Ziel ist die maximale Gewinnoptimierung für ihre meist anonymen Aktionäre und Fondsgesellschaften im In- und Ausland. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet. Dafür ist es wichtig, das alte System und die Strukturen der Großkraftwerke und der großen Stromnetze so weit wie möglich zu erhalten und damit auch die Abhängigkeit der Bürger von diesem System. Der Vorstand eines solchen Konzerns ist seinen Aktionären verpflichtet. Diese Aktionäre wollen Rendite – und zwar sofort. Deshalb muss der Vorstand seine fossilen Großkraftwerke auslasten und seine Gewinne auszahlen. Er hat kaum Möglichkeiten, in den Umbau und damit in die Zukunft zu investieren. Vor allem aber: Wenn ein Energiekonzern einen großen Windpark baut, dann erschließt er sich zwar einen neuen Geschäftsbereich, aber er beschleunigt gleichzeitig den Niedergang seines lukrativen alten, auf fossilem Strom basierenden Geschäftsmodells. Ich wundere mich daher überhaupt nicht, dass die Vorstände der Energiekonzerne trotz des Klimawandels, des nahenden Endes des fossilen Zeitalters und der beschlossenen Energiewende nicht auf Erneuerbare umgestiegen sind, sondern sie bekämpfen. Von ihnen darf man nichts anderes erwarten. Das Perfide ist, dass sie es nicht offen tun, sondern andere für sich kämpfen lassen – von Politikern bis Bürgerinitiativen gegen Windenergie.

Wie versuchen die Konzerne, ihr Ziel zu erreichen?

Die Hauptstrategie besteht seit den Anfängen in der Diskreditierung der Erneuerbaren Energien. Jahrelang hat die alte Energiewirtschaft in Deutschland behauptet, die Energiewende wäre nicht machbar. Erst war maximal ein Prozent Erneuerbare Energie möglich, dann waren es zwei, dann fünf – diese „Prognosen“ wurden sogar bundesweit in Anzeigen verbreitet. Im zweiten Schritt behauptete man, der Ausbau werde nicht schnell genug vorangehen. Jetzt ist man bei etwa 25 Prozent der Stromerzeugung, das heißt, seit 2005 hat sich der Anteil der Erneuerbaren mehr als verdoppelt. Beide Argumentationen sind widerlegt: Es geht, und es geht schnell. Daher hat man sich auf eine dritte Argumentation verlegt. Inzwischen heißt es: Es geht zu schnell.

Wer hilft den Konzernen?

Lobbyisten, die Einfluss auf Politiker nehmen. Und Politiker, die sich beeinflussen lassen. Medien, die ihre Argumente übernehmen und transportieren, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die deutschen Industrie- und Handelskammern (DIHK), die für Großindustrie und Großverbraucher sprechen. Und viele andere. Politiker mit Verständnis für die Sorgen und Nöte der großen Konzerne gibt es in allen Parteien und Parlamenten. Längst gilt das auch für das Europäische Parlament in Brüssel. Nachdem aber auch die Europäische Union 80 Prozent Erneuerbare bis 2050 beschlossen hat, kann man die Energiewende nicht mehr für unmöglich erklären. Deshalb ist das politisch-strategische Ziel der Konzerne und ihrer Lobbyisten, die Energiewende zu entschleunigen. Sie suchen Energiewende-Bremsen.

Eine solche fand sich im April 2013. Da lehnte das Europaparlament mit einer konservativ-liberalen Mehrheit die Reform des Emissionshandelssystems ab, unter Beifall des deutschen FDP-Wirtschaftsministers Philipp Rösler. Begründung war die angeblich drohende Deindustrialisierung Europas. Die Wirtschaftsregion Europa sei in Gefahr, würden die Unternehmen finanziell zu stark belastet. Es war eine überparteiliche Allianz, die da mit- und nebeneinander gearbeitet hatte. Neben Rösler machten sich für die Interessen der Kohlekonzerne auch EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU), NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und andere verdient. Eine „schmutzige Allianz der fossilen Gesinnungsgenossen“, so hieß es in einem Kommentar von tagesschau.de. Diese Reform wäre ein wichtiges Instrument der europäischen Politik zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes gewesen.

Profiteure des Status quo sind klimaschädliche Großindustrien, insbesondere aber eben die Betreiber von Kohlekraftwerken, die damit weiter auf Kosten der Gesellschaft subventioniert werden. Wenn der Preis für CO2-Zertifikate abstürzt, sinkt auch der Strompreis an der Börse – woraufhin die EEG-Umlage absurderweise steigt und Gaskraftwerke keine Chance haben, weil sie zu teuer sind. Es gibt nur einen Gewinner: Kohle. Der Rest verliert.

Auch wenn die Großkonzerne in alle Bundestagsparteien hinein vernetzt sind, so ist es doch nicht übertrieben, die spezielle Rolle der FDP anzuerkennen, die als eine Art verlängerter Arm der Konzerne in der Bundesregierung fungiert. Was ein bisschen ironisch ist, weil die FDP sich ja angeblich dem Mittelstand verschrieben hat. Doch es existiert eine Anti-Mittelstands- und Anti-Bürger-Linie, die von der Politik der letzten FDP-Wirtschaftsminister Philipp Rösler und Rainer Brüderle zurückreicht bis in die Neunzigerjahre. Ich erinnere mich an mein erstes Treffen mit Rainer Brüderle, der damals Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz war und Vorsitzender der hiesigen FDP. Es war 1997, und wir hatten mit einem Vertreter der FDP aus der Region über Windkraft gesprochen, weil der einen Acker hatte, der für uns interessant war. Der FDPler sagte: „Junge, dynamische Unternehmer wie ihr interessieren den Herrn Brüderle bestimmt auch, ich bringe euch da mal hin. Das wird super.“ Wir trafen uns dann bei einem Landesparteitag – und Brüderle redete wie ein Kohle- und Atomunternehmer: So ein Windrad sei ja mal gut, aber mehr davon brauche es nicht, das bringe ja auch nichts. So so.

Das war in den Neunzigern das typische Argument des alten Systems: „Was wollt ihr mit zwei, drei Windrädern?“ Dann kam auch schon: „Was machen wir, wenn der Wind nicht weht?“ Schließlich sagte er: „Außerdem ist Windkraft nur additiv. Denn aus physikalischen Gründen passen eh nur fünf Prozent Windstrom in unser Netz.“

Das war für mich als Diplom-Physiker wie ein Elfmeter: „Lieber Herr Brüderle, als Physiker kann ich Ihnen gerne erklären, warum auch weit mehr als 5 % Strom aus Wind in unserem Netz möglich sind.“ Erst grinste er noch breit, dann wollte er das Thema wechseln, und als ich weiter diskutieren wollte, gab er unwirsch zu verstehen, dass die Sache für ihn erledigt war.

Dem Kollegen, der uns dort hingebracht hatte, war das sehr peinlich. Ich fand Brüderles Expertisen ausschließlich für Brüderle peinlich. Es sollte das erste und das einzige Mal bleiben, dass Brüderle Lust hatte, mit mir zu sprechen. Seit 1997 ist er nicht einmal bei uns gewesen, obwohl wir ihn mehrfach zu juwi eingeladen haben. Die ganze Landes-FDP war bei uns, er nicht.

Direkt nach der Übernahme des Umweltministeriums durch Peter Altmaier 2012 äußerte sich Brüderle öffentlich und sagte, der Umstieg auf Erneuerbare Energien sei nun doch schwieriger und teurer als gedacht. Es brauche mehr Kohlekraftwerke. Und im Frühsommer 2013 fordert er erneut ein Moratorium für Wind und Sonne. Tolle Idee. Die vielen mittelständischen Unternehmen werden das sicher alle überleben.

Warum ist die FDP auf Linie der großen Energiekonzerne? Aus strategischen Gründen, fürchte ich. Die FDP hat, was Bildung und Einkommen angeht, ähnliche Wählerschichten wie die Grünen. Für sie ist das als Unterscheidungsmerkmal wichtig. Weil die Grünen für Erneuerbare Energien stehen, muss die FDP genau das Gegenteil machen. Das ist der Grund, warum die FDP für die konventionellen Energieversorger ist, obwohl sie eigentlich die Partei des Mittelstandes sein will – nur in der Energiebranche nicht, da ist sie die Partei der Großkonzerne. Doch auch die Grünen sind in Konzernstrategien eingebunden, wenn sie etwa ihr Lied auf den Offshore-Strom singen und auf die Arbeitsplätze, die dort angeblich entstehen. Offshore findet ohne Bürgerbeteiligung statt. Da erwarte ich von den Grünen mehr Engagement für die Energiewende der Bürger.

Und was treiben die Industrie- und Handelskammern? Sie werden von den Großkonzernen beeinflusst und haben sich nach meinem Eindruck selbst oft nicht besonders intensiv mit der Materie auseinandergesetzt. Anders verhält es sich da mit der Initiative Soziale Marktwirtschaft. Die INSM ist eine Lobbyvereinigung des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall und der energieintensiven Industrie.

Ihren Vorsitz übernahm 2012 der frühere „Superminister“ Wolfgang Clement – schon zu seiner Zeit als SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ein Gegner der Erneuerbaren. Die Energiewende sei eine staatsinterventionistische Veranstaltung mit flächendeckender Subventionierung, sagte er einmal. Als Wirtschaftsminister sorgte er sich darum, dass die Energiewende eine Wachstumsbremse und eine Milliarden-Fehlinvestition sei.

Bei der Hessen-Wahl 2008 riet er von der Wahl der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti ab, weil sie die Energiewende im Wahlprogramm verankert hatte. Er passt also zur INSM, deren Botschaft lautet: „EEG stoppen – sonst scheitert die Energiewende“. Im Grunde funktioniert die Argumentation meist nach einem wiederkehrenden Muster: Umweltverträglichkeit des Energiesystems? Schön und gut, aber nicht auf Kosten von Sozialverträglichkeit und Versorgungssicherheit.

Bester Lieferant für aberwitzige Zahlen und Argumentationen der Energiewende-Gegner ist Prof. Dr. Manuel Frondel vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). Wann immer es gegen Erneuerbare geht und vor allem gegen Solarstrom, Frondel ist zur Stelle, um mit seinen Zahlen die Kosten (enorm) gegen die positive Wirkung (nicht existent) in absurde Vergleiche zu setzen. Sein verlässliches Fazit: Die „Kostenlawine“ durch den Zubau der Erneuerbaren ist eine „Gefahr für Wachstum und Wohlstand“. Von der „Zunahme der planwirtschaftlichen Organisation“ gar nicht zu sprechen.

Was treibt Frondel an? Die ARD-Sendung „Monitor“ hat ihn nach dem Auftraggeber einer seiner Studien gefragt, mit der Solarstrom als unnötiger Kostentreiber gebrandmarkt wurde. Erst sagte er, es gäbe keinen Auftraggeber. Als ihm die Reporter nachwiesen, dass es doch einen gab, nannte er ein „unabhängiges Energie-Forschungsinstitut.“ Als ihn „Monitor“ dann damit konfrontierte, dass dieses Institute for Energy Research „eine von Öl- und Kohlekonzernen finanzierte Lobbyorganisation“ sei, sagte Frondel: „Das war uns in diesem Maße nicht bekannt.“ Es sei „ein Versehen“ gewesen, dass der Auftraggeber verschwiegen wurde.

Kampf der Systeme

TABELLE ()

Die Frühphase des Systemkampfes

Um zu verstehen, wie der Kampf der Systeme geführt wird, hilft es, chronologisch nachzuvollziehen, mit welchen Argumenten das alte System seit den Anfängen der Erneuerbaren Energieerzeugung das neue System an dessen Entwicklung zu hindern versucht hat. Es ging von Beginn an darum, die eigenen Geschäftsinteressen zu verschleiern hinter Argumenten aus dem wissenschaftlichen, politischen, sozialen und sogar dem Bereich des Naturschutzes. Ziel war es stets gewesen (und ist es auch heute noch), Ängste vor dem Neuen zu schüren und dadurch mentale Blockaden zu erzeugen. In den Gründerjahren ging es gegen Windenergie, den angeblichen „Windmühlenwahn“. Landschaftsbildschützer, entweder mit ökonomischen Eigeninteressen oder romantisch verklärt, wurden im Sinne des Energie-Establishments instrumentalisiert.

Dann begann etwa im Jahr 2005 der Boom der Photovoltaik. Umgehend nahm die meinungsmachende Welle gegen Solarstrom Fahrt auf, bei der sich speziell das Institut RWI hervortat – nicht zu verwechseln mit RWE, aber in dieselbe Richtung argumentierend. Es ging darum, den Erfolg der Photovoltaik schlecht zu reden. Solarstrom sei wie Ananaszüchten in Alaska, sagte der damalige RWEVorstandsvorsitzende Jürgen Großmann. Der Spin war und ist bis heute stets, die Leute glauben zu machen, dass Solarstrom in Deutschland volkswirtschaftlicher Unfug sei. Es dauerte Jahre, aber dann war das Ziel erreicht. Die Einspeisevergütung für Photovoltaik wurde so beschnitten, dass ein Ausbau dieser umweltfreundlichen Energieerzeugung derzeit kaum noch möglich ist. Viele Photovoltaik- Unternehmen und Hersteller von Modulen in Deutschland sind in der Folge bankrott gegangen.

Doch richtig eng wird es für die Konzerne erst, seit nach dem Boom der Photovoltaik und in der Folge der AKW-Katastrophe von Fukushima die Politik in Bayern und Baden-Württemberg den Bau von Windanlagen ermöglicht.

GRAPHIK (Erneuerbare Energien in Bürgerhand Verteilung der Eigentümer an der bundesweit installierten Leistung zur Stromerzeugung aus Erneuerbare--Energien-Anlagen 2012 (72.900 MW).)

Ein Großteil der regenerativen Anlagen gehört schon heute nicht den großen Konzernen, sondern den Bürgern. Quelle: Agentur für Erneuerbare Energien

Während sie das Geschäft des Lobbyismus gegen Erneuerbare seit vielen, vielen Jahren sehr professionell betreiben, kommen sie mit dem neuen System selbst, der dezentralen Erzeugung von Erneuerbarer Energie, überhaupt nicht zurecht. Der gemeinsame Anteil der vier Energiekonzerne RWE, Eon, Vattenfall und EnBW auf dem Markt der Erneuerbaren beträgt gerade einmal fünf Prozent, rund 35 Prozent der regenerativen Anlagen befinden sich im Besitz von Privatpersonen und elf Prozent im Besitz von Landwirten. Laut einer Umfrage der Personalberatung LAB & Company geben inzwischen drei Viertel der Führungskräfte in der Energiewirtschaft zu, dass die deutschen Energiekonzerne die Energiewende verschlafen hätten und ihre aktuellen Geschäftsmodelle nicht überlebensfähig seien. Da ist es umso verständlicher, dass man sich gegen den Systemwechsel wehrt, so gut und so lange es geht.

Der Systemkampf seit Fukushima: von der „Stromlücke“ zur Erneuerbaren-Bremse

Die Energiekonzerne und die schwarz-gelbe Regierung hatten mit großem Aufwand die Rücknahme des Atomausstiegs und die Verlängerung der vereinbarten Laufzeiten der siebzehn deutschen Atomkraftwerke zuwege gebracht. Doch nach der Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 war klar, dass dieser Ausstieg aus dem Ausstieg nicht haltbar sein konnte.

Was tun?

Nach Abschaltung von acht der siebzehn Atommeiler intensivierten die Gegner der Erneuerbaren ihre Geschichte von der „Stromlücke“. Botschaft: Um Gottes willen, Erneuerbare Energien können Atomstrom nicht so schnell ersetzen. Wir werden in Deutschland im Dunkeln und im Kalten sitzen, die Wirtschaft wird zusammenbrechen und auch sonst wird nichts mehr gehen. Es saß dann aber niemand im Dunkeln und im Kalten. Im Gegenteil. Schon im kalten Februar 2012 haben wir Strom ins Ausland und auch nach Frankreich exportiert, als die dortigen Atommeiler am Anschlag waren. Auch 2013 exportiert Deutschland Strom, weil man mehr produziert, als man braucht. Die Drohung mit einer Stromlücke war also nicht aufrechtzuerhalten. Daher drehte man die Argumentation um und sagt seither: Um Gottes willen, wir haben zu viel erneuerbaren Strom.

Zu viel?

Gerade noch hieß es, die Erneuerbaren könnten unmöglich ab 2022 den Anteil der dann vollständig abgeschalteten Atomkraftwerke übernehmen, jetzt will man den Ausbau bis dahin auf 35 Prozent bremsen. Die Begründung ist nun nicht mehr, dass es nicht geht, sondern dass es zu schnell geht. Das gegenwärtig wichtigste Argument der Gegner der Energiewende lautet: Ökostrom mache den Strompreis immer teurer und sei damit unsozial. Derart argumentierte CDU-Umweltminister Peter Altmaier auch bei einem persönlichen Treffen mit mir, kurz bevor er seine sogenannte Strompreisbremse im Frühjahr 2013 mit viel Getöse durchsetzen wollte. Da hieß es: Werde die Energiewende zu teuer, gehe die Akzeptanz für sie verloren und das müsse verhindert werden. Er bezifferte die Kosten auf eine Billion Euro, wenn man nicht die Einspeisevergütungen ändere, also das EEG. Mit der Panikmache trug er gezielt dazu bei, dass die Energiewende von manchen nur noch als Risiko verstanden wurde.

Vermiedene Umweltschäden schön und gut, aber „der Rentnerin oder dem Familienvater“ sei das „nur ein begrenzter Trost, wenn sie nicht wissen, wie sie ihre Stromrechnung bezahlen sollen“, so Altmaier. Selbstverständlich kam er auch mit meinem Lieblingsargument, dem angeblichen Dilemma, dass der Wind nicht 24 Stunden am Tag weht. „Wir brauchen zusätzlich neue konventionelle Kraftwerke als Reserve – für die Zeit, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht“, sagte er.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe Herrn Altmaier bei mehreren Gelegenheiten als sympathischen Menschen und kompetenten Politiker kennengelernt. Aber derzeit ist er prioritär ein populistischer Wahlkämpfer, der teilweise selbst bremst und gleichzeitig von seinem Kollegen Wirtschaftsminister gebremst wird. In einer anderen Konstellation kann er durchaus der richtige Mann sein, um die Energiewende voranzubringen.

Der Systemkampf seit Fukushima (II): Sündenbock EEGUmlage Es ist richtig, dass der Strom bezahlbar sein muss. Es ist nicht richtig, die EEG-Umlage als alleinigen Faktor für steigende Strompreise zu missbrauchen. Das EEG ist das zentrale Instrument der Energiewende. Es regelt die Förderung der Erneuerbaren Energien durch garantierte Einspeisevergütungen sowie durch den Einspeisevorrang. Heißt: Jeder, der Strom mit Erneuerbaren Energien produziert, kann ihn zu einem festgelegten Preis ins Stromnetz einspeisen. Die EEG-Umlage beträgt im Jahr 2013 5,28 Cent pro Kilowattstunde. Für einen durchschnittlichen Familienhaushalt mit einem Verbrauch von 4.000 Kilowattstunden pro Jahr sind das etwa 15 Euro pro Monat. Darüber hinaus liegen die Gründe für die steigenden Stromkosten nicht nur bei der EEG-Umlage. Die Großkonzerne benutzen die Umlage als Alibi für die eigene Preistreiberei. Einer Studie der Uni- versität für Technik und Forschung des Saarlandes zufolge haben die Großkonzerne von 2002 bis 2009 ihre Gewinne vervierfacht. Dennoch wird die Sachlage von ihnen und ihren Protegés seit Jahren auf die Formel reduziert: Ökostrom macht den Strom teuer, Kohlestrom macht den Strom bezahlbar. Was nützt uns die Umwelt, wenn wir den Strom nicht mehr bezahlen können? Das EEG leistet genau das, was es soll: Erneuerbare Energien in den Markt bringen und technologisch und preislich entwickeln. Es ist im Sinne Hermann Scheers die erste wirkliche systemische Umschichtung, weil es den Vorrang der Erneuerbaren regelt. Deshalb wirkt es. Und deshalb wird es bekämpft. Ohne staatlich festgelegte Rahmenbedingungen wäre die bereits teilweise erfolgte Transformation von schmutzig zu sauber nicht möglich gewesen. Der Staat hat vor einigen Jahrzehnten durch finanzielle Unterstützung die Atomenergie durchgesetzt, die nur deshalb wachsen konnte, weil der Staat den Stromproduzenten enorme finanzielle Unterstützung zuteilwerden ließ. Laut einer Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im Auftrag von Greenpeace förderte der Staat die Atomwirtschaft von 1950 bis 2008 mit 164,7 Milliarden Euro. Im Gegensatz dazu – und ebenso zu den Subventionen in der Kohleindustrie – ist es bei der sauberen Energieproduktion allerdings so, dass die Anschubkosten nicht der Staat übernimmt, sondern direkt der Stromkunde. Mehr noch: Der Stromkunde übernimmt auch die Kosten der energieintensiven Großunternehmen, die 2012 mit 2,5 Milliarden Euro entlastet wurden. Heute dürfte die Zahl allerdings noch dramatischer sein: Waren 2012 noch rund 730 Unternehmen mit 979 Abnahmestellen von der Zahlung der EEG-Umlage befreit, so hat sich ihre Anzahl bis heute stark erhöht. 2013 liegt die Zahl der befreiten Abnahmestellen bei 2.262. Die Erhöhung der EEG-Umlage, urteilte der Bund der Energieverbraucher, gehe zu einem großen Teil auf „die gesetzwidrige Befreiung von Großbetrieben durch die Bundesregierung zurück“. Also auf Subventionen für Unternehmen. Hier stellt sich die Frage, warum zum Beispiel eine Krankenschwester, die ja bekanntlich ein relativ niedriges Einkommen hat, die mächtigen Konzerne mitfinanzieren soll. Ist das tatsächlich gesellschaftlich fair und ethisch? Doch das sind nicht die einzigen Kosten, für die wir Verbraucher aufkommen. Derzeit übernehmen wir als Gesellschaft auch die immensen Folgekosten der Kohle- und Atompolitik. Atom- und Kohlestrom haben zusammen seit 1970 429 Milliarden Euro Subventionen bekommen, so eine Studie von Greenpeace Energy. Dort wird die „versteckte Konventionellen-Umlage“ samt gesellschaftlicher Folgekosten auf 10,2 Cent pro Kilowattstunde beziffert. Das ist das, was wir jenseits der Stromrechnung dafür bezahlen. Würden diese Subventionen, die Schäden der Kohleproduktion, die Entsorgung des Atommülls und andere Folgekosten auf den Strompreis umgelegt, so wäre für jeden ersichtlich, dass Atom- und Kohlestrom alles andere als günstig sind. Von einem Reaktorunglück und den anfallenden Kosten gar nicht zu sprechen. Gleichzeitig sorgt die steigende Menge an Erneuerbaren im Netz dafür, dass der Strompreis an der Börse in Leipzig stetig sinkt. Was wiederum der Großindustrie zugutekommt, nicht aber dem einzelnen Stromkunden, denn an ihn werden diese Profite nicht in Form gesenkter Strompreise weitergegeben. Der Stromkunde muss also die steigende EEG-Umlage bezahlen, partizipiert aber nicht an den daraus resultierenden Preissenkungen an der Strombörse. Das erhöht den Gewinn der Energiekonzerne, die daher faktisch trotz Wehklagens über die Schließung einiger Atomkraftwerke in den Jahren 2011 und 2012 weiterhin prächtig verdient haben. Das heißt: Mit dem EEG verteilt der Staat das Geld um – weg von den Privathaushalten und hin zu den Großkonzernen. Und dann tun Politiker wie Brüderle auch noch so, als sei das EEG der einzige Grund, der den Strompreis hochtreibe. Nebenbei kassiert auch der Staat über die Mehrwertsteuer am Strompreis – ganze 19 Prozent. Selbstverständlich auch von der Rentnerin, um die sich Altmaier so sorgt. „Wir haben kein Kostenproblem, sondern ein Problem mit einer Regierung, die den Ausbau der Erneuerbaren abbremst, weil dann Kohlekraftwerke nicht mehr profitabel wären“, brachte es Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender der Grünen und früherer Umweltminister, in einem Gespräch mit der Wirtschaftswoche auf den Punkt. Hinter den Horrorszenarien über Millionen Menschen, denen der Strom abgestellt wird, steckt nicht nur die Absicht, das EEG zum Sündenbock zu erklären, sondern gleichzeitig auch der Versuch, über anderes nicht sprechen zu müssen. Dazu gehören zum Beispiel die steigenden Benzinpreise oder auch, dass wir dringend unsere Abhängigkeit von Öl und Gas reduzieren müssen. Ich will das Problem nicht verharmlosen, wenn sozial Schwächere ihren Strom nicht mehr bezahlen können. Ich stand mal in der Post neben jemandem, der Geld einzahlte an seinen Stromversorger, weil man ihm den Strom abgestellt hatte. Er zählte das Geld in Münzen auf die Theke, und das fiel ihm sichtbar schwer. Das sehe ich heute noch vor mir. Aber die meisten Leute kennen die Zusammensetzung ihrer Stromrechnung gar nicht und sehen weder die wahren Kostenfaktoren noch die Einsparpotenziale. Wären sie am Rande des Stromruins, so wäre das anders. Und wenn es der Politik wirklich um solche Menschen geht – und das sollte es –, um diejenigen, die sich Strom nicht mehr leisten können, dann hat sie viele Möglichkeiten, das sozialer zu gestalten. Ich bevorzuge die Idee der Stapeltarife. Das bedeutet, dass nicht der wenig bezahlt, der viel verbraucht, sondern der, der wenig verbraucht. Das kann man auch pro Kopf berechnen, so dass eine mehrköpfige Familie davon profitiert. Es hat zudem einen positiven Nebeneffekt, wenn die ersten Kilowattstunden billiger sind als die folgenden: Man entwickelt einen ernsthaften Umgang mit Strom. Der Verbrauch wird ein Faktor und geht in die Alltagskultur und das Alltagshandeln ein. Damit ist ein deutlich größerer Geldbetrag einzusparen als mit der Ausbremsung des Ausbaus der Erneuerbaren. Es ist für mich dennoch keine Frage, dass das EEG immer weiterentwickelt werden muss, weil sich beim sukzessiven Ausbau der Erneuerbaren Energien neue Situationen ergeben. Was in einem frühen Stadium des Ausbaus zwingend notwendig war, stellt sich in einem fortgeschrittenen anders dar. Bisher sind Wind und Sonne gewachsen, während Atom und Kohle die Grundlast sicherten. Jetzt müssen diese beiden Welten zusammengebracht werden. Aber die Essentials bleiben in jedem Stadium dieselben und müssen bewahrt werden, damit es dynamisch funktioniert: Ich meine eine breite Beteiligung von Investoren und Bürgern. Dafür braucht es Anreize und eine Begrenzung der finanziellen Risiken. Da erneuerbare Rohstoffe nichts kosten, wird der Strompreis fast ausschließlich von Zins- und Tilgungskosten bestimmt. Deshalb ist ein Festpreissystem das günstigste Modell. Nur so kann die Abschreibungszeit maximiert und die Zinsbelastung sowie die Renditeerwartung des Investors minimiert werden. Wenn eine feste Menge an Strom ausgeschrieben wird – was die FDP immer wieder fordert –, dann gibt es diese Sicherheit nicht und daraus resultieren kürzere Abschreibungszeiträume und deutlich höhere Zinsen sowie Renditeerwartun- gen. Außerdem werden in der Regel kleinere Unternehmen und erst recht Bürger von Ausschreibungen ausgeschlossen. Das soll liberal sein? Das soll marktwirtschaftlich sein? Für mich ist das pure Planwirtschaft zum Wohle der Großkonzerne.

Der Systemkampf seit Fukushima (III): der Versuch, alte Strukturen zu re-etablieren

Nach der erfolgreichen Photovoltaik-Bremse hat sich das alte Energiesystem wieder dem Kampf gegen Windmühlen zugewandt, genauer gesagt gegen Onshore-Wind. Damit sind wir in der fortgeschrittenen Phase des Kampfes der Systeme. Es geht nicht mehr nur um Erneuerbare Energien gegen fossile Energien, sondern auch um Erneuerbare gegen Erneuerbare.

Warum?

Offshore-Stromerzeugung scheint auf den ersten Blick die Lösung fast aller Probleme. Die Windräder stehen weit draußen im Meer. Man kann riesige Mengen Strom erzeugen. Zumal der Wind dort immer kräftig weht. Die schwarz-gelbe Merkel-Regierung sieht Offshore als wichtigen Teil der Energiewende – wie übrigens vor ihr auch schon Schwarz-Rot und Rot-Grün. Bis 2020 sollen 1.500 bis 2.500 Windräder auf See mit einer Leistung von 10.000 Megawatt laufen. Das entspricht der Leistung von vier bis fünf Atomreaktoren. 2030 sollen es 25.000 Megawatt sein. Anfang 2013 waren aber erst 76 Windräder und 320 Megawatt Offshore-Windleistung am Netz.

Zum Vergleich: Die Windkraft-Leistung an Land lag Ende 2012 bei rund 31.300 Megawatt.

Wenn ein Frankfurter, Stuttgarter oder Münchener eine Kilowattstunde Strom in der Nordsee kauft, sollte das – so die allgemeine Meinung – recht günstig sein, denn auf dem Meer weht vermeintlich mehr Wind als an Land. Doch wie kommt die Energie in den Süden? Ein langer, teurer und derzeit noch nicht einmal vorhandener Transportweg wäre zu bewältigen. Bei Flaute könnte man nicht liefern, und die Energie aus windreichen Stunden könnte nicht gespeichert werden – und wenn doch, dann nur zu hohen Kosten. Das kann nicht zum Erfolg führen – nicht nur wegen der fehlenden 4.500 Kilometer Hochspannungstrassen.

Ich weiß, dass es Verfechter der Energiewende gibt, die überzeugt sind, dass wir beides brauchen: Onshore und Offshore. Ich sehe das anders: Diese Art der Stromerzeugung ist zwar erneuerbar und sauber, doch sie ist zentral, verbraucherfern, schwierig in der Handhabung und damit teuer. Vor allem ist sie ebenso wie die Netze und die Speicher ein Geschäftsbereich für Großkonzerne. Offshore-Anlagen sind für Genossenschaften und Kommunen nicht finanzierbar, im Normalfall nicht einmal für Stadtwerksverbünde. Um es auf den Punkt zu bringen: Offshore-Windkraft-Förderung ist teure Förderung der Großkonzerne unter Ausschluss der Bürger. Also die Fortsetzung der alten Energie-Oligarchie. „International wird sich allenfalls Seewind in Küstennähe durchsetzen, was aber in Deutschland wegen des Wattenmeers nicht infrage kommt“, schreibt der Verbraucherschützer Holger Krawinkel in einer Analyse der Verbraucherzentrale Bundesverband. Je schneller der Ausstieg aus dem Offshore-Ausbau vereinbart werde, umso geringer würden die negativen Folgen etwa im Hinblick auf die Kosten ausfallen. Und die Arbeitsplätze, um die sich insbesondere Erwin Sellering, der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern sorgt? Das ist verständlich, aber zu kurz gedacht.

Zunächst handelt es sich bei Offshore gerade einmal um 18.000 Arbeitsplätze in ganz Deutschland (2012). Was aber bisher überhaupt nicht bedacht wird: Auch in Mecklenburg-Vorpommern können viel mehr Arbeitsplätze entstehen, wenn der Strom für etwa 30 Prozent der Offshore-Kosten an Land produziert wird. Der Grund: Viele energieintensive Firmen werden sich in Zukunft da ansiedeln, wo der Wind am stärksten weht und sie sich mit einer direkten Leitung ohne Verluste preiswert selbst versorgen können. Echte Freunde der Energiewende werfen nun ein, man müsse den Konzernen doch wenigstens die Perspektive Offshore anbieten, damit sie sich nicht bis zum letzten Blutstropfen am fossil-atomaren System festbeißen. Was hat etwa der baden-württembergische staatlich gelenkte Atomkonzern EnBW nach dem Ende des atomaren Zeitalters für eine Perspektive, wenn er nicht wenigstens ein paar Windparks an der Küste betreiben kann? Das klingt zunächst plausibel, ist es aber nicht. Wir sind in einem Systemkampf, in dem nur einer übrig bleiben kann. 2015 soll das nächste AKW abgeschaltet werden, und ab da werden die Großkonzerne um jeden Meiler kämpfen, mit allen Tricks und mit aller Macht. So wie sie jetzt schon den Stromtrassenbau für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Nach dem Netzentwicklungsplan von 2012 sollen rund 2.800 Kilometer neue Stromtrassen gebaut werden. Auf den ersten Blick scheinen diese Nord-Süd-Stromverbindungen zwingend notwendig. Die meisten Atomkraftwerke stehen im Süden Deutschlands, die führenden Bundesländer für Windstromproduktion liegen im Norden. Doch wir wissen aus Analysen von Wetterdaten: Windflauten in Norddeutschland gehen häufig mit starkem Wind in Süd- und Südwestdeutschland einher. Wenn wir dort gezielt Anlagen zubauen, verstetigen wir die Erzeugung und stabilisieren die Netze. Und das Binnenland hat einen weiteren Vorteil – die Stetigkeit des Winds: Wir brauchen daher hier weniger Netzausbau und Ausgleichsenergie – zum Beispiel Speicher – als an den norddeutschen Spitzenstandorten. Dort weht der Wind zwar im Durchschnitt stärker, aber er frischt permanent auf und ab – Gift für die Netze. Die Formel „Windenergie nur in Norddeutschland“ ist daher falsch. Vielmehr hilft eine ausgewogene Verteilung von Windenergie in ganz Deutschland, die Systemkosten zu minimieren.

Im Übrigen erreichen moderne Schwachwindanlagen schon bei mittelmäßigen Windverhältnissen die volle Auslastung. Schon an Standorten mit 6,25 m /s mittlerer Windgeschwindigkeit werden Jahresvolllaststunden von mehr als 4.000 möglich. Doch so einfach ist es nicht: Die Stromnetze in Deutschland sind ein häufig unterschätzter Machtfaktor. Durch den Besitz der Netze haben die vier großen Konzerne viele Jahre ihre Macht abgesichert. Um möglichst hohe Gewinne zu erzielen, haben sie sich aber nicht um die Wartung der Netze gekümmert. Weshalb das Stromnetz überaltert und teilweise fehleranfällig ist.

Der Versuch der EU, Stromproduktion und Netze durch gesetzliche Vorgaben in getrennte Hände zu legen, ist gescheitert. RWE hat für die Netze die Tochtergesellschaft Amprion gegründet, Vattenfall hat 50Hertz. Nur Eon hat seine Netze tatsächlich verkauft an den niederländischen Staatskonzern Tennet. Mittlerweile gibt es eine Bundesnetzagentur, die den Ausbau der Netze planen soll. Doch die Konzerne haben eigene Pläne, wie eine Studie des BUND ergab.

Demnach arbeiten sie darauf hin, künftig mit überdimensioniert ausgebauten Netzen – selbstverständlich von der Allgemeinheit finanziert – vermehrt Kohlestrom von Norden nach Süden zu leiten. Die prognostizierten Strommengen aus Kohlekraftwerken für das Jahr 2022 liegen mit fast 250 Terawattstunden bis zu 100 Terawatt stunden über den aktuellen Annahmen in den Energieszenarien der Bundesregierung. Das würde zu einem Mehrausstoß von etwa 90 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2022 führen. Warum hilft ein überdimensionierter Netzausbau den alten Konzernen? Weil dadurch der Einspeisevorrang der Erneuerbaren weniger zum Tragen kommt. Gibt es mehr und größere Netze, kann auch Braunkohlestrom jederzeit ungehindert fließen. Dann müssen Kohlekraftwerke auch dann nicht vom Netz genommen oder heruntergefahren werden, wenn es genug erneuerbaren Strom gibt. Der Plan der Konzerne: volle Pulle weiter Kohlestrom produzieren und im Ausland verkaufen. Das ist zwar ökonomisch für sie logisch, konterkariert aber das Ziel der Energiewende, die Stromproduktion künftig kohlendioxidarm oder gar -frei zu machen.

Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass, Netzexperte und Berater der Regierung, sieht zwar ebenfalls die Notwendigkeit zur Verstärkung bestehender Leitungen. Doch die Netze dürften nicht nach dem Richtwert Jahresspitze ausgebaut werden. Ein überdimensionierter Netzausbau schade der Energiewende, weil dadurch nicht das Stromnetz optimiert werde, sondern der Kraftwerkseinsatz. Die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung wären damit ad absurdum geführt.

Und alles auf Kosten der Bürger. Die derzeitige Netzplanung diene neben der besseren Auslastung von fossilen Kohlekraftwerken möglicherweise auch dem Ziel, neue Kohlekraftwerke bauen zu können, fürchtet der BUND. So lägen die Prognosen der Netzbetreiber zur Auslastung von Braunkohlekraftwerken mit 8.000 Volllaststunden im Jahr 2022 nicht nur deutlich über dem heutigen Durchschnittswert, sondern auch über dem, was technisch für die existierenden Kraftwerke leistbar sei.

Im Zusammenhang mit der indirekten Begründung neuer Kohlekraftwerke wird auch regelmäßig darauf verwiesen, dass ja Speicher für Wind- und Solarstrom fehlten. Deshalb brauche es Kohlekraftwerke. So lange, bis die Speicher entwickelt seien. Doch erstens braucht man umso weniger Speicher, je verbrauchernäher man Strom produziert. Und zweitens kommen technologische Entwicklungen nur voran, wenn es einen Markt und einen Bedarf gibt und zudem die anfangs hohen Kosten gefördert werden. Das heißt: Die Technologien zur Speicherung wie auch zur Produktion und Verteilung von Erneuerbarer Energie wird es dann geben, wenn sie gebraucht werden. Werden zur Grundlastsicherung in der nächsten Zeit doch wieder Kohlekraftwerke gebaut, kann es keine Speicherentwicklung geben, weil Speicher dann keinen Markt haben. Es gibt einen entscheidenden Punkt, der hinter vielen Argumenten des alten Systems steht, warum die Energiewende gebremst werden müsse: Die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien ist schwankend. Bei einer Windflaute speisen Windräder zum Beispiel keinen Strom ein, bei Windgeschwindigkeiten von mehr als 13 Metern pro Sekunde, also bei Sturm, arbeiten sie mit voller Leistung. Das passt zu Gaskraft-, aber nicht zu Kohlekraftwerken, die als Grundlastkraftwerke konzipiert sind. Wenn der Anteil der Erneuerbaren die Grenze von 35 Prozent überschreitet, müssen die fossilen Kraftwerke so häufig heruntergefahren werden, dass sich ihre Auslastung nicht mehr rechnet.

Das ist zwar im Sinne der Energiewende, aber eben nicht im Sinne der Konzerne. Denn es geht den Konzernen und ihren Lobbyisten darum, möglichst lange mit Kohlekraftwerken Strom zu produzieren. Bevor es zu spät ist – nicht für das Klima oder die Zukunft der Gesellschaft, sondern für sie.

Wenn ein neues Kohlekraftwerk einmal läuft, dann läuft es. Es produziert auf viele Jahrzehnte hinaus Geld für den Konzern und klimaschädliche Emissionen für den Planeten. Jetzt entscheidet sich unsere Energieversorgung und unser Beitrag zum globalen Klimaschutz für die kommenden 40 Jahre. Es geht darum, alte Kohlekraftwerke im nächsten Jahrzehnt abzuschalten. Doch wodurch werden wir sie ersetzen – durch neue Kohlekraftwerke der Großkonzerne? Oder durch Bürgerstrom?

Das neue System der Bürger-Energie

Fassen wir zusammen: Wir haben es mit einem klassischen Zielkonflikt zu tun. Das alte System wehrt sich gegen das neue System. Die klassischen Energieversorger bekämpfen die neuen Energiebürger. Denn: Sie leben sehr gut in dem alten System. Je schneller und besser die Energiewende vorankommt, desto schneller fließt das Geld nicht mehr auf die Konten der Energiekonzerne mit ihren alten fossilen Kraftwerken. Denn dezentrale Energieversorgung findet zum großen Teil jenseits der großen Energiekonzerne statt. Das ist essenziell, denn es beendet den Status quo, der so aussieht: Das Geld fließt aus der Region ab, in der das Kraftwerk steht oder in die der Strom geliefert wird. Zurück bleiben eine zerstörte, ausgelaugte Natur (wie zum Beispiel im Tagebau rund um Garzweiler), der atomare Abfall (wie zum Beispiel in Atommülllagern wie Gorleben) und die lokalen Emissionen. Letztere beeinflussen zudem entscheidend unser Klima und tragen zum globalen Klimawandel bei. Der Preis der dreckigen Energie ist nur scheinbar günstig, weil sich viele reale Kosten wie Umweltschäden nicht im Strompreis wiederfinden und so von der Allgemeinheit über Steuergelder und Versicherungsprämien getragen werden müssen.

Das neue System funktioniert über viele dezentrale Kraftwerke, an denen viele regionale Player wie Kommunen, Energiegenossenschaften, Bürger und Landwirte beteiligt sind. Ihre Ziele sind die individuelle und regionale Wertschöpfung sowie der Umweltschutz. Die Energieproduktion erfolgt emissionsfrei. Das Geld bleibt nicht immer, aber häufig zu einem großen Teil in der Region oder der Kommune.

Laut einer Studie des Instituts trend research besitzen Bürger fast die Hälfte der in Deutschland installierten Erneuerbare-Energien- Anlagen. Exakt sind es 46 Prozent. Das heißt: Sie sind der größte Player auf dem wichtigsten Zukunftsmarkt unserer Gesellschaft. Nun haben selbstverständlich auch die Erneuerbare-Energien-Unternehmen Lobby-Organisationen, die versuchen, die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Allerdings ist das nicht vergleichbar mit dem riesigen, dichten Netz des alten Systems. Was aus meiner Sicht eklatant fehlt, ist eine Lobby für den Energiebürger.

Da fehlt es in allen politischen Parteien.

Während das alte System der Konzerne an allen politischen Prozessen entscheidend mitmischt, steht das neue System der Energiebürger draußen vor der Tür und kann bestenfalls demonstrieren, aber nicht wirklich mitkämpfen und sich auch nicht konstruktiv einbringen. Das geht nicht. Das ist ein unfairer Kampf, wenn man den einen Kämpfer erst gar nicht in den Ring lässt. Der Energiebürger ist entscheidend für die Zukunft der Energieversorgung. Er muss im politischen Prozess der Energiewende zumindest repräsentiert sein. Noch besser ist es, wenn er aktiv eingebunden wird. Doch das muss er sich erkämpfen.