Das Leben und die Märchen

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Der Palazzo und die Mafia Buchcover.jpg
Das Leben und die Märchen
Epilog aus "Der Palazzo und die Mafia" von Nando dalla Chiesa aus 1985 in der Übersetzung von Werner Raith.

Lieber Vater,

hier endet ein Buch, das ich Dir widmen wollte, mit aller Liebe und allem Engagement, dessen ich fähig bin. Wer hätte wohl vor zehn, fünfzehn Jahren gedacht, daß ich ein Buch schreiben würde - ein Buch, stell Dir vor - um Dich vor Deinen Feinden zu verteidigen, um Deine Schlacht zu schlagen?

Hättest Du es mir vorausgesagt, hätte ich herzlich gelacht, in der naiven Verweigerung meiner zwanzig Jahre. Hätte ich es stattdessen Dir vorausgesagt, wärst Du stolz auf mich gewesen - ohne es mir zu sagen. Aber genauso ist es gekommen. Was habe ich Dir - selbst ärgerlich und oft auch zu Deinem Ärger, nicht alles erzählt, von mir und meinen Freunden, der Avantgarde, die die Welt verändern würde. Du warst es, der verteidigte, was ich nicht ertrug, was ich nicht eine Minute länger ertragen wollte. Und stattdessen bist du zur Avantgarde geworden, zur wirklichen Avantgarde, vielleicht mit mehr Mut und mehr Bewußtsein als wir. Hätten wir uns zur rechten Zeit zusammengefunden, wir hätten Großes leisten können. Meinst Du nicht auch?

Nun aber kann ich leider nur eines tun — meine Versprechen halten. Drei Dinge habe ich Dir innerlich an diesem 5. September versprochen, als Du für immer der Sonne entschwandest: Ich werde die Namen Deiner Mörder in die Welt hinausschreien; ich werde Dein Andenken vor den Angriffen der Schakale bewahren; und ich werde die Ideale lebendig zu halten versuchen, für die Du gefallen bist. Soweit ich konnte, habe ich diese Versprechen eingelöst.

Ich weiß nicht, was und wie ich für das bezahlen werde, was ich getan habe. Die Große Hyäne, die Italien in Blut tränkt, ist weiterhin bereit zuzuschnappen, heute und morgen und auf tausend Arten. Und es sind noch immer viele, die so tun, als würden sie nichts sehen.

Jedenfalls habe ich es nicht aus Mut getan. Ich habe es getan, weil man — Du hattest recht, hörst Du — bestimmte Dinge tut, »um den eigenen Kindern auch weiterhin ehrlich in die Augen sehen zu können«. Was Dich betrifft, so konntest Du mich bis zuletzt ehrlich ansehen; und das gilt auch für Deine Enkel, einschließlich der allerkleinsten, von denen Du Dich verabschiedet hast, als sie drei oder vier Jahre alt waren. Märchen konntest Du ihnen nicht mehr erzählen, das ist wahr. Aber Dein Leben ist für sie märchenhaft geworden. Carletto bittet mich fast jeden Abend vor dem Einschlafen, von »jenem Schurken bei Opa Carlo« zu erzählen. Simonas Sohn Alberto macht es genauso. Am Ende der Erzählung wird sein Gesicht unter den Locken wutrot, und er wiederholt immer aufs Neue, daß »die Leute, die Opa Carlo umgebracht haben, Scheißkerle sind«. Und während unseres Urlaubs in Kalabrien fragten sich unsere Kinder nach dem Fernsehkrimi vom Vorabend (einer von der Sorte, die mit einem »Jetzt kommen die unseren« enden) - »warum die Soldaten auf ihren Pferden nicht auch gekommen sind, um Großvater Carlo zu retten«.

Siehst Du, ein Andenken, ein wunderschönes Andenken, ein lebendiges Andenken. Und das ist das wunderbarste von allem, was Du uns hinterlassen hast. Ciao, lieber Vater.