Zur Modellbildung in der Gedächtnisforschung:Kapitel I
Wozu ?
Vorausgesetzt, daß ein wissenschaftlich zu nennendes Denkgebäude aus einem System von Sätzen besteht, welche gewissen Forderungen einer Aussagen-, Klassen-, oder Prädikatenlogik genügen, so ist ein Vokabular, dessen Elemente geeignet sind, empirische Befunde und theoretische Herleitungen prägnant und eindeutig zu dokumentieren, von unbestreitbarem Vorteil.
Die wissenschaftliche Psychologie, wie auch die psychologische Gedächtnisforschung als deren Teilgebiet, verfügt bislang nicht über einen solchen Vorrat an Fach-Termini: Es gibt schlicht keine verbindliche Psychologische Fachsprache.
Dieser Zustand macht sich in außerordentlich störender Weise bemerkbar wenn man den Versuch wagt, einen wenigstens partiell innovativen Ansatz in Worte zu fassen. Vertritt man die These, daß umscharfe Begriffe eine komplizierte Terminologie zur Folge haben, ergibt sich im weiteren das Problem, dem sich der Begründer der Gestalt-Therapie Fritz PERLS gegenüber sah.
"The Approach here presented rests on a set of premises that are neither abstruse nor unreasonable. On the contrary, they are, by and large, common sense assumptions which experience can easily verify. As a matter of fact, although they are frequently expressed in complicated terminology which serves the triple function of confusing the reader, inflating the self-importance of the writer and obscuring the issues they are meant to enlighten, these assumptions underlie a large part of contemporary psychology." |
Perls, F. (1973): The Gestalt Approach & Eye Witness to Therapy. |
Diese Feststellung mag banal klingen, bringt sie doch nur zum Ausdruck, was kein Kenner oder Betreiber psychologischer Erkenntnistätigkeit ernsthaft zurückweisen würde; ein 'offenes Geheimnis' sozusagen. Seltsamerweise scheint dieser Umstand, der mir als ein schweres Handicap jedweder wissenschaftlichen Arbeit erscheint, niemanden so richtig zu stören. "Erlaubt ist was gefällt" scheint das Motto dessen zu sein, was gemeinhin als 'Operationale Definition' verkauft wird. Der Intelligenz-Begriff ist wohl das populärste Produkt einer Praxis, bei der die inhaltliche Fassung einer Größe i.d.R. den Meßmethoden nachgeordnet ist.
Verschiedene Autoren haben diesen Zustand beschrieben, wobei die Einschätzungen von "methodischen Unzulänglichkeiten" bis zu "Orientierungslosigkeit" gehen. So stört sich bspw. E. TULVING, auf den die Unterscheidung von 'semantischem' und 'episodischem' Gedächtnis zurückgeht, besonders am oft esoterischen Charakter psychologischer Konzepte.
"They are used by small groups of people and either ignored or found confusing by others. There is also a good deal of terminological confusion. One and the same term may be used in rather different senses by different investigators." | – | Tulving, E.: Memory Research: What Kind of Progress? in: NILSSON, I. (1979) S.26 ff |
Andere, wie WETHERICK & DAVIES sehen die Ursache der Misere gar in einer Identitätskrise der Psychologie, in der diese sich seit ihren Anfängen befände.
"From the beginning, Psychology has suffered a crisis of identity. At no time has it been clear, even to its practitioners, what constituted the boundaries of the discipline." |
Wetherick, N. & Davies, P.: Whither Psychology? in: TINS Januar 1980, S.1 ff |
Offensichtliche Schwierigkeiten, analytische Kategorien zu etablieren und brauchbare stabile Definitionen zu formulieren, können demnach eng mit dem Fehlen einer solchen Definition für die Psychologie selbst zusammenhängen. Die gängige Selbstdarstellung als 'Wissenschaft vom Erleben und Verhalten' erweist sich als Un-Sinn, weil die Bedeutung eben dieser beiden Termini erst geklärt werden müßte; eine Definition der Psychologie auf solcher Grundlage hat keine wirkliche Perspektive.
Mit der Physik als oft strapaziertem Vorbild der psychologischen Forschungsmethodik wird die Absurdität dieser Situation vollends augenfällig: Eine Physik, die semantisch eng beieinanderliegende Begriffe wie Kraft, Energie und Leistung nicht auseinanderzuhalten bemüht ist, sondern sie über momentan opportun erscheinende Methoden 'operationalisiert', käme niemals zu einem System wechselseitig konsistenter Aussagen, es sei denn per Zufall.
Stellt man sich weiter einen Forscher vor, der sich mit Prozessen auf atomarem oder subatomarem Niveau befaßt, die sich bekanntermaßen oft nur über einige Mikrosekunden erstrecken, wird plausibel, daß sich ohne genaue Definition dessen, was beobachtet werden soll, gar nichts beobachtet werden kann! - Es bedarf deshalb einer Form von Hypothesen, die Ausdruck einer Erwartungshaltung als Produkt vorangegangener theoretischer Arbeit sind.