Projekt Baby X

Aus phenixxenia.org
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Oder: "Die Geschichte eines fabelhaften Kindes"

Ein Märchen von Louis Gould

Eines Tages erblickte ein Baby namens X das Licht der Welt. Es wurde X genannt, weil niemand wissen sollte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die Eltern wußten es natürlich, aber sie durften es niemand sagen, anfangs nicht einmal Baby X.

Du mußt nämlich wissen, dies war alles Teil eines großangelegten, sehr wichtigen, geheimen, wissenschaftlichen Xperiments, offiziell bekannt als "Projekt Baby X". Die gewieftesten Forscher hatten es sich ausgedacht und es kostete 80 Milliarden Mark und 72 Pfennige. Was ja ziemlich viel scheint für ein einziges Baby, selbst wenn es ein Xperimentier-Baby ist.

Aber wenn Du bedenkst, wie teuer allein Vitamine, Gummibärchen, Popcorn, Drachenschnur und die blanken Groschen der Zahnfee für 28 kleine ausgefallene Zähnchen sind, dann merkst Du, wie schnell diese Summe zusammenkommt. Überdies mußten ja auch die Wissenschaftler bezahlt werden, die sich das Xperiment in allen Einzelheiten ausgedacht hatten, lange bevor Baby X überhaupt geboren wurde. Sie verfaßten ein "Handbuch mit vielen praktischen Tips" für die Eltern von Baby X und - was das allerwichtigste war, sie mußten das richtige Elternpaar überhaupt erst einmal finden, Die Eltern mußten wirklich sehr, sehr sorgfältig ausgewählt werden.

Tausende von Bewerbern mußten tausenderlei Tests machen und 100 verzwickte Fragen beantworten. Fast jeder fiel durch, denn es stellte sich immer wieder heraus, daß fast jeder in Wirklichkeit entweder einen Baby-Jungen oder ein Baby-Mädchen und ganz und gar kein Baby X haben wollte.

Da gab es Familien mit Großeltern, die Horst und Erna hießen und die nicht einsehen wollten, warum das Baby nicht Horst oder Erna genannt werden sollte, selbst wenn es ein X war. Und es gab Familien mit Tanten, die darauf bestanden, rosa Mützchen zu häkeln, und mit Onkeln, die sich nicht davon abbringen ließen, kleine Boxhandschuhe zu schicken. Am allerschlimmsten aber waren Familien, die schon Kinder hatten. Denen konnte man ein 80 Milliarden und 72 Pfennige-Xperiment nun wirklich nicht anvertrauen, wo man doch nur einen verstohlenen Blick auf Baby X in der Badewanne zu werfen braucht, um herauszukriegen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, vom Babysitter ganz zu schweigen!

Schließlich gelang es aber, die Familie Kühne zu finden, die tatsächlich lieber ein Baby X als irgendeine andere Sorte Baby großziehen wollte, ganz egal wieviel Xtra Mühe das bereiten würde.

Am Tag als die Kühnes ihr Baby nach Hause brachten, kamen viele Freunde und Verwandte, um es zu bewundern. Natürlich hatte keiner eine Ahnung von dem Xperiment, es war ja schließlich geheim. Und so fragten alle zuerst immer das Gleiche: "Was ist es denn geworden?" Wenn Kühnes dann lächelten und sagten: "Es ist ein X", wußte keiner, was er sagen sollte. "Sieh mal, ihre süßen kleinen Grübchen", paßte nicht und auch nicht: "Schau Dir bloß mal seinen zarten kleinen Bizeps an". Und sie hatten auf einmal keinen Spaß mehr, einfach "Du-Du-Du-Du" zu gurren. Eigentlich dachten sie alle, Kühnes trieben einen ziemlich unverfrorenen Scherz mit ihnen.

Keiner der vielen Verwandten fühlte sich wohl, wenn Sie ein Geschenk für das kleine X kauften. Die Basen, die den winzigen Astronautenhelm mitbrachten, wollten nicht mehr zu Besuch kommen und die Leute von nebenan, die ein zart gemustertes Strampelchen schickten, ließen die Jalousien herunter, sobald Kühnes an ihrem Gartenzaun vorbeigingen.

Das "Handbuch mit vielen praktischen Tips" hatte die jungen Eltern vor solchen Sachen gewarnt, so daß sie sich erst gar nicht aufregten. Außerdem waren sie viel zu beschäftigt mit ihrem kleinen X und den hunderterlei verschiedenen Trix, die man kennen mußte, um ein X richtig aufzuziehen. So mußten Herr und Frau Kühne immer auf der Hut sein, welche Spiele sie mit X spielten, schließlich wußten sie, wenn sie ausschließlich Tobespiele spielten und sagten, wie stark und aktiv es sei, daß sie es mehr wie einen Jungen denn wie ein X behandelten. Und wenn sie es dauernd knuddelten und küßten und betonten, wie süß und überhaupt niedlich doch sei, würden sie es mehr wie ein Mädchen denn wie ein X behandeln.

Anweisung auf Seite 1654 des Handbuches: "Machen Sie beides, viel Toben & viel Knuddeln! X soll stark und süß und aktiv sein. Niedlich können Sie weg lassen."

Inzwischen hatten Kühnes schon wieder ganz andere Sorgen. Spielzeug zum Beispiel und Kleidung. Als Herr Kühne bei seinem ersten Einkauf für X in einem Geschäft sagte: "Ich möchte Sachen für mein neues Baby", lächelte der Verkäufer wohlwollend und fragte: "Ist es denn ein Junge oder ein Mädchen?" Herr Kühne lächelte auch: "Es ist ein X". Der Verkäufer lächelte nicht mehr, er wurde ganz rot im Gesicht und meinte verschnupft: "In diesem Fall, mein Herr, fürchten wir, Ihnen nicht helfen zu können." Herr Kühne wanderte ziemlich hilflos durch die Kinderabteilungen der Geschäfte und versuchte Sachen zu finden, die für sein X richtig waren. Aber alles, was sich so in den Geschäften türmte, war gezeichnet und aufgeteilt und entweder für Jungen oder für Mädchen. Es gab Jungenschlafanzüge und Mädchenunterwäsche. Feuerwehrausrüstungen und alles für die kleine Puppenmutti. Ohne etwas zu kaufen ging er nach Hause und noch am selben Abend zogen er und Frau Kühne das Handbuch zu Rate. Seite 2326: "Kaufen Sie ausreichend von jedem", stand da entschlossen.

Das taten sie auch: Derbe blaue Schlafanzüge in der Jungenabteilung, fröhlich geblümte Mädchenunterwäsche in der Mädchenabteilung und alle möglichen Arten von Spielzeug. Eine Puppe mit Penis, die pinkeln konnte und schrie und eine Puppe mit Zöpfen, die drei Sprachen sprach und piepste: "Ich bin der Prä-si-dent-der-Volks-wa-gen-wer-ke." Sie kauften auch ein Märchenbuch mit Geschichten von der Prinzessin, die den hübschen Prinzen aus dem verwunschenen Efeuturm befreite und von Brüderchen und Schwesterchen, aus denen berühmte Ballettänzer und Fußballstars wurden und man mußte raten, wer was geworden war.

Jedesmal, wenn Kühnes mit Baby im Park spazieren gingen, fanden sich immer verzückt lächelnde Fremde, die gurrten: "Ist es denn ein Junge oder ein Mädchen?" Kühnes antworteten regelmäßig freundlich: "Es ist ein X", worauf die Fremden ihr Lächeln abstellten und ziemlich häufig etwas Häßliches knurrten, so als ob die Kühnes ihnen etwas getan hätten.

Als X groß genug war, um mit anderen Kindern zu spielen, waren auch die Probleme der Kühnes gewachsen. Einmel grabschte sich ein kleines Mädchen im Sandkasten Xens Schaufel und schlug sie X über den Kopf. "Aber, aber, Sandra", fing ihre Mutter an zu schimpten, "kleine Mädchen dürfen aber kleine...", sie drehte sich um und fragte: "Was bist du denn, mein kleiner Liebling, ein Junge oder ein Mädchen?" Herr Kühne, der daneben auf der Bank saß, hielt den Atem an und drückte die Daumen. X lächelte die Dame höflich an, obwohl Xens Kopf noch nie einen so harten Schlag erhalten halte und sagte: "Ich bin das kleine X." "Du bist was ...?" rief die Dame ziemlich ärgerlich, "ich werde Dir mal sagen, was Du bist, eine kleine Kanaillie bist Du!" "Trotzdem brauchen kleine Mädchen kleine Xe nicht zu kloppen", sagte X und mit einem weiteren höflichen Lächeln zog es seine Schaufel wieder zu sich rüber: "Überhaupt ist hauen doof."

Herr Kühne, immer noch mit angehaltenem Atem, atmete schließlich doch aus, entspannte sich und grinste X an.

Bei ihrem nächsten "Projekt-Baby-X"-Treffen grinsten auch die Wissenschaftler ziemlich zufrieden. Baby X machte sich gut.

Dann allerdings wurde es Zeit für die Einschulung. Kühnes brachten Wochen damit zu, im Handbuch unter "Der erste Schultag" nachzulesen (249 1/2 Seiten waren dafür vorgesehen) und besuchten Xtra dringende Konferenzen, die die Wissenschaftler Xtra für sie einberufen hatten. Die Wissenschaftler überzeugten sich noch einmal davon, daß die Mutter X gelehrt hatte, wie man einen Schlagball richtig wirft und der Vater X gezeigt hatte, was auf einem Fünf-Uhr-Tee für Puppen alles serviert wird. X wußte, wie man mit Murmeln spielt, konnte Seilspringen und - was am allerwichtigsten war - es wußte immer, was zu sagen war, wenn gefragt wurde, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei.

Und schließlich wer es soweit: Kühnes halfen X, den neuen, schönen, rotweiß-karierten Overall zuzuknöpfen, spitzten sex Bleistifte für die schöne, neue Federtasche und schrieben den Namen schön und deutlich auf alle Bücher und die schöne neue Schulmappe. X kämmte sich die Haare, die gerade bis über die Ohren reichten, bürstete die Zähne und dachte sogar daran, eine Serviette in die Stullentasche zu stecken.

Kühnes hatten die Lehrerin gebeten, die Kinder immer nur nach dem Alphabet aufzurufen und nicht getrennt nach Jungen und Mädchen und sie hatten auch gefragt, ob X das Lehrerklo benutzen dürfte, weil an der Tür nicht "Jungen" oder "Mädchen", sondern einfach "Toilette" stand. Die Lehrerin hatte versprochen, an all diese Dinge zu denken, aber niemand konnte X bei dem größten Problem helfen - und das hieß: Andere Kinder.

Niemand in Xens Klasse hatte jemals zuvor ein X gesehen. Was würden sie denken? Würde es X gelingen, Freunde zu finden?

An der Kleidung konnte man nicht ablesen, was X war: denn Overalls werden nicht von rechts-nach-links geknöpft wie Mädchenkleider und auch nicht von links-nach-rechts wie Jungenanzüge. An den Haaren konnte man es nicht erkennen, die weder zu lang noch zu kurz waren, und auch an der Bevorzugung bestimmter Spiele konnte man nichts ablesen. Entweder spielte X unheimlich gut Ball für ein Mädchen, oder Vater-Mutter-Kind sehr ausdauernd für einen Jungen! Einige Kinder versuchen es mit Trix und stellten Fragen wie: "Welchen Sportler findest Du am besten?" Das war einfach zu beantworten, denn X mochte eine Reiterin, die Robyn Schmidt hieß und einen Bogenschützen, der Robin Hood hieß. Dann fragten sie nach X liebstem Fernsehprogramm. Das war noch einfacher: Denn X sah gern Lassie, eine Serie, in der ein weiblicher Hund von einem Rüden dargestellt wird.

Als herauskam, daß Xs Lieblingsspielzeug eine Puppe war, entschied jeder für sich, X müsse ein Mädchen sein. Aber dann erzählte X, daß die Puppe eigentlich ein Roboter sei, den man wie einen Computer mit verschiedenen Programmen füttern könne und daß es ihn gerade so programmiert habe, daß die Roboterpuppe Karamellbonbons kochen und hinterher auch die Küche wieder saubermachen konnte. Danach gaben es die Kinder wieder auf, herauszukriegen, ob X ein Junge oder ein Mädchen war, aber alle wollten wahnsinnig gern die Puppe sehen.

X fand es doch ganz schön, ein X zu sein. Trotzdem weinte X manchmal vor dem Einschlafen, weil es sich fürchtete. Dann kam Xs Vater, nahm es fest in die Arme und konnte sich nicht helfen: Er mußte auch ein bißchen weinen. Und Xs Mutter versuchte dann, beide mit dem Märchen von der schönen Prinzessin, die den wunderbaren Prinzen mit einem Kuß wieder zum Leben erweckt, aufzuheitern.

Am nächsten Morgen fühlten sie sich alle wieder viel besser und das kleine X ging in einem frischgewaschenen rotweißkarierten Overall wiedereinmal tapfer in die Schule. An diesem Tag wurden Worte mit sieben Buchstaben um die Wette buchstabiert, in der Turnhalle ein Siebensprung-Wettbewerb ausgetragen und ein Kuchen mit sieben verschiedenen Zuckergüssen übereinander wurde in der Mädchenküche gebacken. X gewann die ersten beiden Wettbewerbe und hätte auch den dritten fast gewonnen, wenn es nicht vergessen hätte, den Ofen anzustellen. Ein weiterer Beweis dafür, daß wirklich niemand vollkommen ist.

An diesem Tag fiel den anderen Kindern aber etwas auf: Gewinnen oder Verlieren schien X nicht soviel zu bedeuten wie der Spaß, in Jungen- und Mädchendisziplinen gleich gut zu sein. Ihnen kam der Gedanke, daß X auf diese Weise vielleicht doppelt soviel Spaß als sie selber haben könnte.

An diesem Tag also gab das Mädchen, dem X beim Kuchenbacken unterlegen war, ein Stück von ihrem preisgekrönten Kuchen ab und der Junge, den X beim Siebensprung überrundet hatte, wollte X nach Hause begleiten.

Von diesem Tag an passierten ausgesprochen merkwürdige Sachen. Nina, die in der Schule neben X saß, weigerte sich auf einmal, weiterhin in rosa Kleidern zur Schule zu gehen. Sie bestand darauf, genauso einen rotweißkarierten Overall anzuziehen wie X mit der Begründung: "Overalls sind viel besser zum Klettern und Toben."

Dann begann David, der Fußballheld der Klasse, plötzlich mit dem Puppenwagen seiner kleinen Schwester um den Fußballplatz herumzujuckeln. Dafür zog er seine Feuerwehrausrüstung an, bis auf den Heim. Den tat er ın den Puppenwagen, bedeckte ihn liebevoll mit einem ausgedienten Paar Achselklappen, raste mit dem Wagen los und sang dabei: “Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein". Seinen Eltern erklärte er, daß X sowas auch machen würde und es also in Ordnung sei. Schließlich war X inzwischen der beste Mittelstürmer der Klasse geworden.

Ninas Eltern waren entsetzt und Davids wurden ganz krank bei dem Gedanken, daß ihr Sohn mit einem Puppenwagen spielte! Das schlimmste kam aber erst, als die Zwillinge Daniel und Miriam sich entschlossen, von nun an alles zu teilen. Sie benutzte seine Schlittschuhe und sein Mikroskop, er ging an ihren Stickrahmen und kochte für die Puppen nach ihrem Kochbuch. Sie nahm ihm die Hälfte seiner Arbeit als Zeitungsjunge ab, er übernahm die Hälfte ihrer Babysitter-Aufträge. Sie fing an, den Rasen zu mähen und er begann, mit dem Staubsauger sauberzumachen. Ihre Eltern waren ganz und gar nicht von Töchterchens Fortschritten im Mikroskopieren entzückt, ebensowenig wie von des Sohnes Idee, ihnen eine selbstgemachte Kreuzstichdecke zu verehren.

Die Zwillinge durften also nicht mehr mit X spielen, Nina auch nicht, dann wurde es David verboten und schließlich durfte kein Kind mehr mit X nach der Schule zu tun haben. Aber, es war schon zu spät. Die Kinder hatten die Freiheit gespürt und weigerten sich, wieder so zu sein wie früher.


Erschienen in der Reihe „Geschichten für freie Kinder" der amerikanischen Frauenbewegungszeitschrift (Women's Liberation Movement) „Ms.”, Dezember 1972. Übertragen aus dem Amerikanischen von Gesine Strempel.

Alle Rechte: Ms Magazine Corp., 370 Lexington Ave, New York, New York 10017, USA.

Zeichnungen: GH. Magnus aus Betrifft: Erziehung, April 77, Beltz-Verlag