General a.D. Harald Kujat am 15.11.2025: Unterschied zwischen den Versionen
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Im Gegensatz zu seiner bisherigen Position, die Ukraine müsse für einen Friedensvertrag mit Russland Territorium aufgeben, schrieb Trump allerdings vor einiger Zeit auf seiner Plattform "Truth Social“ nach einem Gespräch mit Selenskyj am Rande der UN-Generalversammlung: "Ich denke, dass die Ukraine mit Unterstützung der Europäischen Union in der Lage ist, die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen.“ | Im Gegensatz zu seiner bisherigen Position, die Ukraine müsse für einen Friedensvertrag mit Russland Territorium aufgeben, schrieb Trump allerdings vor einiger Zeit auf seiner Plattform "Truth Social“ nach einem Gespräch mit Selenskyj am Rande der UN-Generalversammlung: "Ich denke, dass die Ukraine mit Unterstützung der Europäischen Union in der Lage ist, die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen.“ | ||
Das klingt so, als handelte es sich um Selenskyjs Worte. Ich halte das für realitätsfern. Zumal die USA sich aus diesem Stellvertreterkrieg zurückziehen und die Verantwortung für die weitere Unterstützung der Ukraine und damit auch für eine militärische Niederlage von den Europäern zu tragen ist. Der Stellvertreterkrieg Russland-USA wird somit zu einem Stellvertreterkrieg Russland-Europa. | |||
Trump hat seine Meinung mehrfach geändert und wird das auch künftig tun. Aus seinen Worten spricht eine gehörige Portion Frustration. Offenbar um den Druck auf Russland wegen mangelnder Fortschritte auf dem Weg zu einem Frieden weiter zu erhöhen, hatte Präsident Trump die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk mit einer Reichweite von 2500 km an die Ukraine nicht ausgeschlossen. Dies wäre allerdings – wie Trump es formulierte – «ein neuer Schritt der Aggression». Putin warnte, die Lieferung würde eine «völlig neue und qualitativ andere Eskalationsstufe einleiten und die Beziehungen zwischen Moskau und Washington nachhaltig beschädigen.» | Trump hat seine Meinung mehrfach geändert und wird das auch künftig tun. Aus seinen Worten spricht eine gehörige Portion Frustration. Offenbar um den Druck auf Russland wegen mangelnder Fortschritte auf dem Weg zu einem Frieden weiter zu erhöhen, hatte Präsident Trump die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk mit einer Reichweite von 2500 km an die Ukraine nicht ausgeschlossen. Dies wäre allerdings – wie Trump es formulierte – «ein neuer Schritt der Aggression». Putin warnte, die Lieferung würde eine «völlig neue und qualitativ andere Eskalationsstufe einleiten und die Beziehungen zwischen Moskau und Washington nachhaltig beschädigen.» | ||
Aktuelle Version vom 19. November 2025, 15:33 Uhr
- Für ein Kriegsende und eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung
- General a.D. Harald Kujat, Haus der Begegnung, Heidelberg, 15. November 2025
- Es gilt das gesprochene Wort -
- I.
Das 21. Jahrhundert ist geprägt vom Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen und militärischen Weltmacht. Der Ukrainekrieg hat gezeigt: Nicht Russland, sondern China ist der einzige ernsthafte Herausforderer der USA. Die bisherige amerikanische Strategie zielte darauf ab, Russland – den zweiten Rivalen – politisch, wirtschaftlich und militärisch so zu schwächen, dass man den strategischen Fokus auf China richten kann. Washington suchte den engen Schulterschluss mit Europa, um die NATO in ein indo-pazifischen Netzwerk mit Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea einzubinden.
Dagegen hat Präsident Trump in mehreren Telefongesprächen und dem Treffen am 15. August in Anchorage Putin aus der Isolation wieder auf die Weltbühne zurückgeholt und perspektivisch die Normalisierung der amerikanisch-russischen Beziehungen, möglicherweise sogar das Entstehen einer neuen Partnerschaft signalisiert. Bisher sind die damit verbundenen Erwartungen an ein Ende des Ukrainekrieges jedoch nicht eingetreten. Russland suchte nach dem Ende der Sowjetunion die Nähe zur NATO. Das Ziel war, eine Pufferzone, einen „Cordon sanitaire“ zwischen der NATO und Russland zu erreichen, um dort entstehende Krisen und Konflikte unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen beider Seiten gemeinsam zu lösen und eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Ich erinnere an die Zeit enger politischer Abstimmung nach dem Grundlagenvertrag von 1997 und eine konstruktive militärische Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat der Generalstabschefs. Das führte dazu, dass Russland im Jahre 2000 sogar bereit war, der NATO beizutreten. Der Kern des Dissenses blieb jedoch: Das Streben der Ukraine nach einem NATO-Beitritt und die Autonomiefrage des Donbass, wie sie das Minsk II-Abkommen 2015 vorsah. Die bis Ende des gleichen Jahres umzusetzende Verfassungsänderung zugunsten der russischsprachigen Bevölkerung wurde nicht realisiert und der nach dem Putsch von 2014 entstandene Bürgerkrieg mit vielen Opfern nahm an Intensität zu.
Aus Moskauer Sicht hat die NATO-Erweiterung – jedenfalls um einige Staaten - das strategische Gleichgewicht zu Ungunsten Russlands verändert. Russland will als nuklearstrategische Supermacht mit den USA auf Augenhöhe bleiben, den US-Einfluss in Osteuropa zurückdrängen und seine Rolle als Energie- und Rohstoffmacht sichern.
China hält in Bezug auf den Ukrainekrieg einen moderaten Kurs – nicht neutral, aber interessengeleitet. Peking wirbt für eine multipolare Weltordnung, sieht im Westen den Hauptverantwortlichen für die gewachsenen Risiken, und setzt auf engere Kooperation mit Russland.
Trotz der angespannten Wirtschaftsbeziehungen mit China - China hat die Ausfuhr seltener Erden eingeschränkt – habe ich den Eindruck, dass Trump auch die politischen Beziehungen mit China entspannen und eine militärische Konfrontation um Taiwan vermeiden will. Das zeigt auch das Treffen mit Xi Jinping Ende Oktober, bei dem der Zollstreit beigelegt wurde.
China hat – teils gemeinsam mit Brasilien – Vorschläge für eine Verhandlungslösung vorgelegt und könnte beim Wiederaufbau der Ukraine eine zentrale Rolle übernehmen. Wünschenswert wäre ein amerikanisch-chinesischer Schulterschluss mit Blick auf Friedensgespräche – nicht zuletzt, weil dies den globalen Ordnungsrahmen stabilisieren könnte. Auch bei der Absicherung einer Friedensvereinbarung könnte China eine wichtige Rolle spielen. Das ist aber wohl nicht Chinas Absicht. Bei ihrem letzten Treffen haben Trump und Xi Jinping allerdings vereinbart, für ein Ende des Ukrainekrieges zusammen zu arbeiten. Das könnte Trumps Friedenbemühungen einen wichtigen Impuls geben.
- II.
Um Russland und China hat sich ein geopolitischer Block mit den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gebildet – ergänzt durch die Schanghai- Organisation für Zusammenarbeit, der China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan angehören. Allein die 5 BRICS-Staaten repräsentieren 40 %, die westlichen G7-Staaten einschließlich Japan nur etwa 12,5 % der Weltbevölkerung. Ihr Bruttoinlandsprodukt ist größer als das der G7 Staaten. Im vergangenen Jahr sind der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Argentinien, Ägypten und Äthiopien BRICS-Mitglieder geworden. Und mit 13 Partnerstaaten wurde ein Assoziierungsabkommen geschlossen, darunter Algerien, Bolivien, Indonesien, Kuba, Thailand und die Türkei. Sogar der NATO-Mitgliedstaat Türkei hat Anfang. September 2024 die BRICS-Mitgliedschaft beantragt. Zurzeit haben mehr als 30 weitere Staaten Interesse an einem Beitritt bekundet. Darunter Pakistan, Mexiko, Nicaragua, Uruguay und Venezuela.
Diese dynamische Entwicklung kennzeichnet eine Neuformierung jenseits westlicher Institutionen. Das internationale System, das die USA nach 1945 aufgebaut haben, einschließlich des Dollars als Weltleitwährung, steht unter Druck. Insbesondere die Staaten des sogenannten globalen Südens sehen in einer auch als polyzentrisch bezeichneten neuen Weltordnung Chancen, sich aus alten Abhängigkeiten zu lösen und neue Entwicklungsperspektiven entstehen.
Die NATO, Garant westlicher Sicherheit im Kalten Krieg, steht durch das perspektivlose politische, finanzielle und materielle Engagement einiger Mitgliedstaaten an der Seite der Ukraine vor einer Zerreißprobe: Wie weit trägt ihr Engagement, ohne die Bündniskohäsion und die eigene Verteidigungsfähigkeit zu gefährden? Wie weit geht die Risikobereitschaft? Wird dadurch verhindert, das aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine wird, also eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa oder wird das Gegenteil erreicht? Die Antworten auf diese Fragen werden über die Zukunft der NATO entscheiden.
Die NATO braucht einen neuen Harmel-Bericht. Der belgische Außenminister Pierre Harmel hatte 1967 die Zukunft der NATO als Doppelstrategie aus militärischer Abschreckung und aktiver Entspannungspolitik definiert, ihre politische Rolle gestärkt und den Weg zu Rüstungskontrolle und Dialog geöffnet. Daraufhin wurde auch die militärische Strategie von der „Massive Retaliation“ (Massive Vergeltung) zu „Flexible Response“ (Flexible Reaktion) geändert. Angesichts der wirren Diskussion über Drohnenangriffe und Forderungen, bei Luftraumverletzungen die eingedrungenen Flugzeuge abzuschießen, selbst wenn keine Angriffsabsicht besteht, wäre im Sinne des Artikels 5 des NATO-Vertrages auch die Frage zu klären, was genau ein bewaffneter militärischer Angriff ist – idealerweise auch mit Russland.
Die Europäische Union geriert sich immer massiver als Gegenmacht zu Russland, bisher vor allem durch die finanzielle Unterstützung der Ukraine und eine endlose Serie von Sanktionen mit erheblichen negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche und industrielle Leistungs- und Zukunftsfähigkeit Europas. Zudem erhebt die EU immer stärker den Anspruch, auch ein militärischer Machtfaktor zu werden.
- III.
Der Ukrainekrieg ist für Europa ein Menetekel. Ich plädiere schon lange für die Selbstbehauptung Europas: politisch, wirtschaftlich, technologisch und in Grenzen auch militärisch. Aber das darf nicht Autarkie von der NATO bedeuten, sondern sollte ein starker europäischer Pfeiler im Bündnis sein. Denn nur so können die europäischen Sicherheitsinteressen in der Allianz stärker zur Geltung gebracht werden. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die auch der NATO angehören, sollten für eine komplementäre und nicht für eine konkurrierende Sicherheitspolitik eintreten und auf diese Weise die geopolitische Handlungsfähigkeit Europas stärken. Denn Europa ist nicht zuletzt durch den Ukrainekrieg geschwächt und in der Machtarithmetik der großen Mächte nahezu in die Bedeutungslosigkeit abgeglitten. Noch dazu, weil Europas strukturelle Probleme der Abhängigkeit den weltpolitischen Einfluss zusätzlich mindern – bisher energiepolitisch von Russland, auch in Zukunft sicherheitspolitisch und strategisch von den USA, wirtschaftlich und technologisch von den USA und China. Die Sanktionen gegen Russland haben unsere Verwundbarkeit offengelegt, interne Divergenzen verstärkt und zentrifugale Kräfte befeuert.
Diejenigen, die nach wie vor an einen Sieg der Ukraine glauben, stützen ihre Hoffnung darauf, dass den Russen bei andauernder Unterstützung der Ukraine und bei gleichzeitiger Fortsetzung der Sanktionen früher oder später die Luft ausgeht. Natürlich wirken sich die Sanktionen wie auch der permanente Verbrauch und Verschleiß von militärischen Gütern auf Russland und seine Volkswirtschaft aus. Aber eben nicht in dem Maße, wie es sich der Westen erhofft hat. Wir stehen jetzt vor dem 20. Sanktionspaket gegen Russland, und bislang hat noch keines das Kriegsgeschehen zugunsten der Ukraine verändert.
Russland hat nicht nur die Chinesen, sondern die Staaten der BRICS+-Gruppe und der Shanghai-Organisation an seiner Seite, die einerseits Rohstoffe wie Öl von den Russen kaufen und sie andererseits mit Konsumgütern beliefern. Die Russen sind also alles andere als isoliert. Der Glaube an einen baldigen Zusammenbruch der russischen Militärmacht ist deshalb ebenso eine Fiktion wie die Hoffnung darauf, dass die Ukraine den Krieg doch noch auf dem Schlachtfeld gewinnen könnte.
Was Europa fehlt, ist eine geopolitische Gesamtstrategie, die Politik, Wirtschaft, Technologie, Energie, Klima- und Entwicklungspolitik sowie Abrüstung und Rüstungskontrolle synergetisch verzahnt. Nur so kann Europa auf die sich dynamisch verändernden sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen proaktiv reagieren, eigene Interessen durchsetzen und zu internationaler Stabilität beitragen. Dazu gehört ausdrücklich die Prävention künftiger Konflikte – auch durch die Bekämpfung ihrer Ursachen wie die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in vielen Ländern, ethnische und religiöse Konflikte sowie Ressourcenknappheit.
- IV.
Der Ukrainekrieg hat eine lange Vorgeschichte. Zwei Ereignisse haben jedoch das Verhältnis der Vereinigten Staaten und Russlands und damit auch das Verhältnis der NATO und Europas zu Russland fundamental verändert.
Der strategische Wendepunkt waren die einseitigen Kündigungen wichtiger Abrüstung- und Rüstungskontrollverträge durch die USA: 2001 das 1972 mit der Sowjetunion geschlossene, für das nuklearstrategische Gleichgewicht so wichtige ABM-Abkommen über strategische Raketenabwehrsysteme, 2019 das für Europas Sicherheit entscheidende INF-Abkommen über eurostrategische Nuklearwaffen sowie 2020 der Vertrag über den offenen Himmel, der viel zur Transparenz, Vertrauensbildung und politische Berechenbarkeit beigetragen hat.
Der sicherheitspolitische Wendepunkt war der NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, auf dem Präsident Bush mit großem Druck versuchte, eine Einladung an Georgien und die Ukraine für eine NATO-Mitgliedschaft durchzusetzen. Als er damit scheiterte, wurde, wie in solchen Fällen üblich, zur Gesichtswahrung zumindest eine Beitrittsperspektive in das Kommuniqué aufgenommen. Der spätere CIA-Direktor William Burns, damals US-Botschafter in Moskau, hatte die amerikanische Regierung gewarnt: „… man kann die strategischen Konsequenzen nicht hoch genug einschätzen – es wird einen fruchtbaren Boden für eine russische Intervention auf der Krim und im Osten der Ukraine schaffen … Es besteht kein Zweifel, dass Putin scharf zurückschlagen wird.“
Und so geschah es dann auch.
- V.
Mehr als dreieinhalb Jahre hält dieser Krieg nun an und ein Ende ist nicht in Sicht. Dabei hätte der Krieg möglicherweise verhindert werden können, wenn der Westen bereit gewesen wäre, ernsthaft über die russischen Vertragsentwürfe zu gegenseitigen Sicherheitsgarantien, Abrüstung und Rüstungskontrolle vom Dezember 2021 zu verhandeln. Der Krieg hätte mit ziemlicher Sicherheit im April 2022 enden können, wenn die in Istanbul weit fortgeschrittenen Verhandlungen des Vertrages über „eine ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien der Ukraine“ vom 15. April 2022 abgeschlossen worden und nicht aufgrund des westlichen Einflusses gescheitert wären. Das damalige Paket: Neutralität, Blockfreiheit und nuklearfreier Status, wie es in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben ist, somit Verzicht auf NATO-Beitritt, keine fremden Truppen auf ukrainischem Boden – und im Gegenzug Rückzug Russlands auf den Stand vor dem 24. Februar 2022. Wenige strittige Punkte sollten von den beiden Präsidenten geklärt werden.
Stattdessen verfestigte sich der Krieg. Russland rückt langsam, aber stetig vor. Der Verlust der eingekesselten Stadt Pokrowsk steht unmittelbar bevor. Wenn Pokrowsk fällt, wird die Verteidigung des sogenannten Festungsgürtels mit den Städten Kostjantyniwka, Druschkiwka, Kramatorsk und Slowjansk äußerst schwierig. Pokrowsk hat bisher als Verkehrsknotenpunkt die Versorgung der ukrainischen Verbände an der nördlichen Front sichergestellt, die nun gefährdet ist, Zudem öffnet sich westlich von Pokrowsk eine etwa 150 km breite Ebene, die für die Verteidigung wenig geeignet ist. Die ukrainische Lage ist kritisch: hohe Verluste, eine große Zahl an Fahnenflüchtigen und sinkende Moral, sowie eine nachlassende Unterstützung der Bevölkerung. Nur baldige Friedensverhandlungen können eine militärische Niederlage der Ukraine verhindern.
Warnende Stimmen wurden nicht gehört oder werden weiter ignoriert. Der damalige Vorsitzende der amerikanischen Joint Chiefs of Staff, General Mark Milley, warnte schon Anfang November 2022, die ukrainischen Streitkräfte hätten erreicht, was sie erreichen können. Nun müssten Verhandlungen mit den Russen aufgenommen werden. Und der ehemalige britische Oberbefehlshaber FM Sir Richards, sagte vor einiger Zeit, „die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen und sollte Friedensverhandlungen aufnehmen“.
- VI.
Ich war nach dem Trump/Putin-Treffen in Anchorage optimistisch, dass es Fortschritte auf dem Weg zu Friedensverhandlungen geben wird, nachdem Trump der Diplomatie wieder Vorrang vor der ziellosen Fortsetzung des Kriegs gab. Ich bin auch nach wie vor davon überzeugt, dass Trump seine Vermittlerrolle nicht aufgeben wird und Putin den Krieg mit einem Friedensvertrag beenden will.
Im Gegensatz zu seiner bisherigen Position, die Ukraine müsse für einen Friedensvertrag mit Russland Territorium aufgeben, schrieb Trump allerdings vor einiger Zeit auf seiner Plattform "Truth Social“ nach einem Gespräch mit Selenskyj am Rande der UN-Generalversammlung: "Ich denke, dass die Ukraine mit Unterstützung der Europäischen Union in der Lage ist, die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückzugewinnen.“
Das klingt so, als handelte es sich um Selenskyjs Worte. Ich halte das für realitätsfern. Zumal die USA sich aus diesem Stellvertreterkrieg zurückziehen und die Verantwortung für die weitere Unterstützung der Ukraine und damit auch für eine militärische Niederlage von den Europäern zu tragen ist. Der Stellvertreterkrieg Russland-USA wird somit zu einem Stellvertreterkrieg Russland-Europa.
Trump hat seine Meinung mehrfach geändert und wird das auch künftig tun. Aus seinen Worten spricht eine gehörige Portion Frustration. Offenbar um den Druck auf Russland wegen mangelnder Fortschritte auf dem Weg zu einem Frieden weiter zu erhöhen, hatte Präsident Trump die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs Tomahawk mit einer Reichweite von 2500 km an die Ukraine nicht ausgeschlossen. Dies wäre allerdings – wie Trump es formulierte – «ein neuer Schritt der Aggression». Putin warnte, die Lieferung würde eine «völlig neue und qualitativ andere Eskalationsstufe einleiten und die Beziehungen zwischen Moskau und Washington nachhaltig beschädigen.»
Dann trafen sich Trump und Selenskyj, der nach Washington gereist war, um die Freigabe der Tomahawk-Marschflugkörper für Angriffe auf Ziele tief in Russland zu erreichen. Er erhielt keine Zusage. Trump hatte verstanden, dass die Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern eine qualitativ neue Eskalationsstufe wäre, zumal die ukrainischen Streitkräfte für den Einsatz auf die aktive Unterstützung amerikanischer Spezialisten angewiesen wären. Entscheidend ist jedoch: Die Tomahawks können die strategische Lage ebenso wenig zu Gunsten der Ukraine ändern wie die bisher gelieferten westlichen Waffensysteme. Außerdem gibt es nur eine kleine Zahl bodengestützter Systeme und die amerikanischen Streitkräfte halten immer einen ausreichenden Verfügungsbestand für eigene Einsätze zurück. Deshalb bin ich skeptisch, dass die Ukraine diese Waffe erhält.
Trump konzentrierte sich bei dem Gespräch mit Selenskyj auf den Verhandlungsweg. Einen Tag zuvor hatte Putin in einem Telefongespräch mit Trump angeblich gefordert, dass die Ukraine die vollständige Kontrolle über die Regionen Luhansk und Donezk abgibt. Russland sei bereit, Teile der Regionen Saporischschja und Cherson aufzugeben. Trump soll Selenskyj nachdrücklich aufgefordert haben, diese Forderung zu akzeptieren. Er warnte, dass die Ukraine eine vernichtende militärische Niederlage erleiden könnte, wenn es keine Einigung gebe, Selenskyj hatte dagegen erneut anhand von Karten einen Waffenstillstand entlang dem Frontverlauf gefordert. Nach dem Gespräch mit Selenskyj forderte Trump dann doch ein Ende der Kampfhandlungen und das Einfrieren der aktuellen Frontlinie.
Selenskyj und die europäischen Staatschefs haben immer für einen Waffenstillstand vor Friedensverhandlungen plädiert, was Trump bisher brüsk abgelehnt hatte. Offenbar waren sich Trump und Putin bereits in Anchorage einig, den Umweg über einen Waffenstillstand zu vermeiden und dass direkt Verhandlungen aufgenommen werden. Der russische Außenminister behauptet sogar, dort hätten die USA erklärt, dafür sorgen zu können, „dass Selenskyj die Friedensbemühungen nicht blockieren“ würde. Ich halte Trumps Meinungsänderung deshalb für einen taktischen Kurswechsel, um Selenskyj einzubinden.
Russland besteht weiter darauf, dass ein Waffenstillstand erst dann zustande kommt, wenn zuvor zwischen den Kriegsparteien verbindliche Regeln für dessen Einhaltung vereinbart wurden. Eine Feuerpause ohne verbindliche Regeln ist sehr brüchig, denn jederzeit besteht die Gefahr, dass schon kleinste Zwischenfälle zur Wiederaufnahme der Kampfhandlungen führen und anschließend ein noch größeres Misstrauen herrscht als zuvor, das die Aufnahme von Verhandlungen erschwert.
Für den gegenwärtigen Stillstand in den Friedensbemühungen ist jedoch die Verhärtung der Positionen beider Kriegsparteien verantwortlich. So oder so gab es keine Grundlage mehr für eine Begegnung zwischen Trump und Putin, weshalb diese abgesagt wurde. Seit dem Treffen Orbans mit Trump vor ein paar Tagen wissen wir jedoch, dass die Absage des Budapester Gipfels nicht das Ende der Friedensbemühungen bedeutet. Denn danach bestätigte Trump, dass er an einem Treffen mit Putin in Budapest festhält.
Die russischen Streitkräfte versuchen nach dem Aussetzen weiterer Gespräche, so viel ukrainisches Territorium wie möglich unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn dies stärkt bei nächsten Gesprächsrunden, die es früher oder später geben wird, die Position Russlands. Aber das muss keineswegs bedeuten, dass die russische Regierung nicht mehr verhandeln will. Immerhin haben die Russen weiteren Gesprächen keine grundsätzliche Absage erteilt.
Dass Trump nun erstmals Sanktionen gegen Russland verhängt hat, ist ein starkes Signal an Putin. Gleichwohl ändert das nichts an der grundlegenden Haltung des US-Präsidenten, den Krieg auf jeden Fall beenden zu wollen. Dazu passt, dass auch Selenskyj zuletzt erkennen ließ, dass er zu direkten Friedensgesprächen bereit ist und einen vorherigen Waffenstillstand nicht mehr als Voraussetzung für Verhandlungen ansieht. Interessant ist, dass in die Positionen beider Kriegsparteien Bewegung gekommen ist.
Interessant ist auch, dass die amerikanische Regierung ihre nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs nach Europa entsandten Verstärkungen wieder reduzieren. In Rumänien, zum Beispiel, sollte eine Basis für 10.000 Soldaten errichtet werden. Dazu wird es nun nicht kommen. Das ist eindeutig ein Zeichen der Entspannung, das von den Amerikanern gesendet wird. Und es ist auch ein Indiz, dass die USA die europäischen Annahmen eines baldigen russischen Angriffs gegen die NATO nicht teilen.
Die Tragik der Ukraine besteht darin, dass sie während des gesamten Krieges immer wieder an eine Wegscheide kam, wo sie den Weg des Friedens hätte einschlagen können, aber die Chance nicht nutzte. Nun könnte sich eine neue Gelegenheit ergeben, das Leid der Menschen und die Zerstörung des Landes zu beenden – vielleicht die letzte.
Denn angesichts der Positionsänderungen beider Kriegsparteien könnte sich eine positive Perspektive ergeben, gelänge es, die beiden Kernprobleme in Friedensverhandlungen zu lösen: Die Aufgabe ukrainischen Territoriums und eine NATO-Mitgliedschaft. Russland hat bisher gefordert, dass alle vier Regionen – Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson - einschließlich der noch von den ukrainischen Streitkräften gehaltenen Gebiete unter russische Kontrolle kommen. Insofern ist der Vorschlag Putins, dass nur die beiden Donbas-Regionen Luhansk und Donezk aufgegeben werden sollen und Russland Teile der beiden anderen Gebiete zurückgibt, eine bemerkenswerte Entwicklung. Denn Luhansk und Donezk haben sich im April 2014 zu unabhängigen Volksrepubliken erklärt und darüber Referenden abhalten lassen, die eine Zustimmung von 89 beziehungsweise 96 Prozent ergaben. Nach dem Minsk II-Abkommen von 2015 sollten sie einen Sonderstatus erhalten.
Wäre Russland bereit, die Eingliederung beider Regionen in die Russische Föderation vom 30. September 2022 rückgängig zu machen und die Ukraine deren Unabhängigkeit anerkennen, könnte dies ein einigungsfähiger Kompromiss sein. Die ukrainische Verfassung schützt zwar das Staatsgebiet, lässt aber Gebietsabtretungen nach einem Referendum zu. Die beiden Regionen könnten zudem unter UN-Treuhandverwaltung gestellt werden, ein bewährtes Mittel, Gebiete nach Kriegen unter internationaler Aufsicht zur Selbstbestimmung zu führen. Aus fast allen bisherigen UN-Treuhandgebieten wurden unabhängige Staaten.
Für einen NATO-Betritt erfüllt die Ukraine weder die Voraussetzungen noch gibt es einen Konsens, sie dazu einzuladen. Das ukrainische Parlament nahm 1996 die heutige Verfassung an. Wie es in der Präambel heißt, auf der Grundlage der Souveränitätserklärung vom 16. Juli 1990 und der Unabhängigkeitserklärung vom 19. August 1991, der kurz danach in einem Referendum über 90 Prozent der Bevölkerung zustimmten. Darin wurde festgeschrieben: Keine Mitgliedschaft in Militärblöcken, ständige Neutralität und Verzicht auf Kernwaffen. Das bedeutet, kein NATO-Betritt und keine fremden Truppen auf dem Territorium der Ukraine.
Allerdings müssten beide Seiten zu diesem Kompromiss bereit sein. Da der Ukrainekrieg unter anderem die geopolitischen Handlungsmöglichkeiten Russlands erheblich einschränkt, stimmt es wohl auch, dass Russland den Krieg beenden will, wie Trump sagt. Deshalb kommt es jetzt auch auf die Europäer an. Sie sollten im engen Schulterschluss mit der amerikanischen Regierung der Diplomatie ebenfalls eine Chance geben. Die europäischen Regierungen dürfen nicht noch einmal den Zug in Richtung Frieden verpassen. Sie könnten in einer Fortsetzung des Krieges als Stellvertreterkrieg Europa-Russland nicht bestehen. Die Gefahr der Ausweitung des Ukrainekrieges zu einem großen europäischen Krieg darf deshalb nicht länger verdrängt werden.
Schließlich gibt es ohne Russland keine europäische Sicherheits- und Friedensordnung. Wir haben die Chance der Charta von Paris verspielt. Das darf nicht noch einmal passieren. Voraussetzung ist jedoch eine gerechte und dauerhafte Friedensregelung, die den Sicherheitsinteressen der Ukraine und Russlands entspricht und die Ursachen künftiger Konflikte beseitigt.
- VII.
Wenn wir in diesem Zusammenhang den Blick nach Deutschland richten, müssen wir allerdings feststellen, dass eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung – ich bezeichne es als das wichtigste außen- und sicherheitspolitische Ziel Deutschlands und darüber hinaus auch Europas, offenbar für die gegenwärtige Politik keine Bedeutung hat. Vielmehr wächst die Bereitschaft, sich mental auf einen Krieg einzurichten und zu akzeptieren, dass er unausweichlich ist. Ein deutscher Politiker hat schon vor einiger Zeit betont, dass „Russland immer unser Feind bleiben wird.“ Der polnische Ministerpräsident Tusk ging noch einen Schritt weiter: «Es herrscht Krieg, und es ist auch unser Krieg,» sagte er vor einiger Zeit auf einem Sicherheitsforum in Warschau,“ Dass „Putin einen hybriden Krieg gegen Deutschland führt“, ist inzwischen zu einer stehenden Redewendung geworden.
Martin Heidegger sagte "Die Sprache ist das Haus des Seins". Das bedeutet, dass die Sprache der Raum ist, in dem der Mensch zuhause ist. Sie offenbart, wie wir die Welt sehen und verstehen. Und durch die Sprache wird unser Denken für andere zugänglich gemacht.
Sprache ist nicht nur ein Werkzeug der Kommunikation, sondern ermöglicht, dass wir uns selbst begreifen und die Welt versteht, wie wir denken. In einem hybriden Krieg werden die militärischen Kampfhandlungen durch andere Maßnahmen wie Desinformation, wirtschaftliche Sanktionen oder auch Cyberattacken gleichzeitig und abgestimmt ergänzt. Was wir gegenwärtig erleben, sind asymmetrische Aktivitäten unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts.
Von Russland wird die Unterstützung der Ukraine durch den Westen, als Kriegsbeteiligung gewertet. Lawrow hat kürzlich sogar behauptet, die NATO und die Europäische Union hätten Russland den Krieg erklärt und benutzten die Ukraine als Vollstrecker. Zu dieser Behauptung geben offenbar auch Forderungen wie diese Anlass: „Wir brauchen Waffensysteme, die weit in die Tiefe des russischen Raumes reichen, die angreifen können: Depots, Führungseinrichtungen, Flugplätze, Flugzeuge.“ Der Westen finanziert den Krieg, liefert leistungsfähige Waffensysteme und ermöglicht durch Aufklärung und Zielinformationen, dass die Ukraine strategische Ziele in Russland angreifen kann. Rechtlich ist die westliche Unterstützung eine Grauzone, politisch jedoch hochbrisant. Wenn Informationen entscheidend sind, um Angriffe erfolgreich auszuführen, beziehungsweise Angriffe ohne diese Informationen nicht durchgeführt werden könnten, kann dies als Mitwirkung an Feindseligkeiten gewertet werden.
- VIII.
Seit sich US-Präsident Trump bemüht, Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, wird hierzulande verstärkt vor einem russischen Angriff auf Westeuropa beziehungsweise auf die NATO gewarnt. Russland wird zunehmend als Herausforderung für die europäische Sicherheitsordnung und als Bedrohung dargestellt. Es heißt, Putin sei bereit, seine imperialistischen Ziele mit Gewalt durchzusetzen und werde nach der Ukraine weitere Länder angreifen – zunächst ein einzelnes NATO-Land, beispielsweise einen baltischen Staat oder Polen, um den Zusammenhalt des Bündnisses zu testen.
Diese Annahmen gehen davon aus, dass Russland bald über die erforderlichen militärischen Fähigkeiten verfügt und auch die Absicht zu einem Angriff habe. Denn erst durch die Fähigkeit und die Absicht zu einem Angriff entsteht eine Bedrohung. „Militärexperten“ wetteifern gar um den kürzesten Zeitraum, der den NATO-Staaten für die Verteidigungsvorbereitungen bleibt. Manche warnen, ein Angriff könnte 2030 erfolgen, andere sind sogar fest davon überzeugt, Russland könne bereits ein Jahr früher losschlagen. Und wieder andere behaupten, Russland „könnte NATO-Gebiet im kleineren Maßstab bereits morgen angreifen“.
Ein russischer Testangriff auf einen NATO-Staat wäre ein Sprung ins Ungewisse – mit unkalkulierbaren Konsequenzen bis zu einer nuklearen Eskalation. Denn ein Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat, in welchem Maßstab auch immer, wird als Angriff auf die gesamte NATO gewertet, So ist es im NATO-Vertrag geregelt. Deshalb würde ein Angriff auf einen NATO-Staat Russland in einen Krieg mit dem gesamten Bündnis stürzen. Wäre Russland wirklich bereit, ein existentielles Risiko für einen derartigen „Test“ in Kauf zu nehmen?
Wir erwarten von unseren Politikern Besonnenheit, De-Eskalationsbereitschaft und konstruktivem Krisenmanagement. In Fragen von Krieg und Frieden, in existenziellen Fragen für die Sicherheit unseres Landes und die Zukunft der deutschen Nation darf kein verantwortlicher Politiker mit Vermutungen und Annahmen argumentieren.
Putin hat darauf kürzlich auf der Waldai-Konferenz mit der Bemerkung reagiert, es sei Unsinn und schüre Hysterie zu behaupten, dass Russland einen Angriff auf die NATO plant, dass der Krieg mit den Russen praktisch vor der Tür steht. Diese Bemerkung zeigt, auch wenn man sie als Teil des Informationskrieges versteht, die wechselseitige und eskalierende Natur des Rüstungswettlaufs zwischen dem Westen und Russland.
Tatsächlich hat Russland seine Rüstungsproduktion 2024 gegenüber den Vorjahren erheblich gesteigert. Die Konversion ziviler Industrie in militärische Fertigung – insbesondere in der Metallverarbeitung, Fahrzeugproduktion und Elektronik – folgt dem Muster zentral gesteuerter Kriegswirtschaft. Erhebliche staatliche Investitionen flossen in den Ausbau der Munitionsfabriken und die Panzerproduktion. Aber jetzt hat die russische Regierung den Verteidigungshaushalt für 2026 zum ersten Mal seit Kriegsbeginn gesenkt, und zwar um 6,7 Prozent von 13,5 Prozent. Russland führt einen Angriffskrieg und niemand wird bestreiten, dass sich die Ukraine dagegen so gut wie möglich verteidigen können muss und dabei auch unterstützt werden sollte. Es ist aber auch richtig, dass unsere Politiker bisher weder die Kraft noch den Willen aufgebracht haben, die Ukraine durch konkrete Vorschläge für eine Friedensvereinbarung zu schützen. Vielmehr wird der Krieg in der Illusion, die Ukraine könnte einen militärischen Sieg erringen, ohne eine Friedensstrategie bis heute genährt und verlängert.
Es war die Doppelstrategie aus Verteidigungsfähigkeit und politischer Entspannung in den 70er und 80er Jahren, die Europa lange Zeit Sicherheit und Frieden brachte. Ein Rüstungswettlauf aufgrund einer ungesicherten Bedrohungsperzeption verschärft dagegen die ohnehin angespannte Lage, denn ein Rüstungswettlauf kennt keine Sieger, sondern ist der kürzeste Weg zum Krieg.
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Trumps Ankündigung, sein Land sei gezwungen, zu Atomwaffentests zurückzukehren. Nachdem Russland Ende Oktober erfolgreiche Tests des Torpedos „Poseidon“ mit einer Reichweite von mehr als 10.000 Kilometern und des Marschflugkörpers „Burewestnik“ mit einer praktisch unbegrenzten Reichweite bestätigt hatte. Beide Waffensysteme verfügen über einen nuklearen Antrieb durch einen Miniatur-Kernreaktor und können mit einem nuklearen Gefechtskopf ausgerüstet werden. Sie sollen das interkontinental-strategische Gleichgewicht mit den USA durch eine gesicherte nukleare Zweitschlagsfähigkeit Russlands garantieren. Dazu wurde insbesondere der Marschflugkörper „Burewestnik“ entwickelt, mit dem Russland das Ziel verfolgt, Raketenabwehrsysteme zu durchdringen.
Da die Russen ihre neuen Waffensysteme ohne atomare Gefechtsköpfe getestet haben, fehlt der Ankündigung des US-Präsidenten jedoch letztlich die Grundlage.
Käme es allerdings tatsächlich zu neuen Atomwaffentests, würde dies nach mehr als dreißig Jahren eine Erosion der internationalen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsordnung markieren und wäre in der Tat eine Rückkehr in finstere Zeiten. Denn seit dem letzten Nukleartest der USA 1992 gilt ein faktisches Testmoratorium der fünf Atommächte USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien. Zudem verbietet der „Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty“ (CTBT) von 1996 nukleare Tests. Allerdings ist dieser bisher nicht in Kraft getreten.
In jedem Fall ist die Diskussion über neue Atomwaffentests ein Beispiel dafür, an welche Abgründe die Welt ganz schnell geraten kann. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung dazu Stellung nimmt. Beispielsweise mit dem Vorschlag, Vereinbarungen zur gegenseitigen Inspektion von Nuklearsystemen zur Gewährleistung von Sicherheit und Zuverlässigkeit als vertrauensbildende Maßnahmen einzuleiten. Es muss sichergestellt werden, dass Atomtests unterirdisch, an der Oberfläche oder in der Luft weiterhin verboten bleiben. Andernfalls beginnt ein neues bedrohliches Wettrüsten.
Aber noch einmal zurück zu den behaupteten Angriffsabsichten Russlands. Die US-Nachrichtendienste stellten 2024 wie bereits zuvor in ihrer offiziellen Bedrohungsanalyse fest: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der Schwelle eines militärischen Konflikts weltweit fortsetzen.“ Die aktuelle Bedrohungsanalyse vom März 2025 bestätigt, dass Russland „versuchen (wird), unterhalb der Ebene eines bewaffneten Konflikts zu konkurrieren und Möglichkeiten zur Förderung russischer Interessen zu schaffen“. Die amerikanische Regierung ist zudem überzeugt, dass Russland für die Rekonstitution und den Aufwuchs der Landstreitkräfte bis zu zehn Jahre braucht. Dieser Zeitraum entspricht den Erfahrungen aus umfassenden Streitkräftereformen.
Warum also bewertet die deutsche Politik die strategischen Fähigkeiten und Absichten Russlands anders als die USA? Zumal die amerikanische Lagebeurteilung auch in die Bedrohungsanalyse der NATO einfließt. Die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die erhöhte Produktion von konventionellen Waffensystemen während des Krieges belegen nicht, dass Russland die Fähigkeit anstrebt, in wenigen Jahren einen Eroberungskrieg gegen die NATO erfolgreich führen zu können und dazu auch die Absicht hat.
Das bedeutet jedoch nicht, dass ein großer europäischer Krieg völlig ausgeschlossen ist. Vielmehr ist das Risiko, das aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine entsteht, permanent gestiegen. Dazu hat auch das alternativlose finanzielle und materielle Engagement der NATO-Staaten beigetragen, vor allem die substanzielle Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte in der Operationsplanung, Aufklärung und Zielbekämpfung durch in Deutschland stationierte amerikanische Streitkräfte.
Auch deshalb hat der ehemalige Präsident Biden offenbar wiederholt geäußert, er beabsichtige, den Dritten Weltkrieg zu vermeiden, weil er das Risiko sah, dass die USA in den Krieg hineingezogen werden könnten.
Denn seit Beginn des Krieges hat die Ukraine immer wieder versucht, Situationen zu schaffen, die das erzwingen sollten, wie zum Beispiel die Angriffe auf Kernkraftwerke, auf das interkontinentalstrategische Frühwarnsystem oder die strategische Bomberflotte Russlands.
Der ehemalige polnische Präsident, Andrzej Duda, hat in einem Interview des polnischen Magazins „Do Rzeczy“ am 3. September sogar bestätigt, dass dies von Anfang an die Absicht der Ukraine war.
Diejenigen Politiker und Medien, die sich immer tiefer in eine absurde Kriegslogik verirren, sollten bedenken, dass ein Krieg zwischen Russland und NATO ein anderer als der Ukrainekrieg wäre, die gleiche Mischung aus Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs und einem Bewegungskrieg in der Art des Zweiten Weltkriegs. Russlands militärische Fähigkeiten zu regionaler und globaler Machtprojektion sind durch den Ukrainekrieg nicht beeinträchtigt worden. Die Luft- und Seestreitkräfte sind uneingeschränkt einsatzfähig und teilweise sogar wesentlich moderner und leistungsfähiger als zuvor. Weitreichende Präzisionsangriffssysteme, einschließlich verschiedener Hyperschallwaffen und Raketen mit unabhängig steuerbaren Gefechtsköpfen, stellen ein überlegenes Potential für eine Kriegführung über große Distanzen dar.
Aber die Stärke der amerikanischen Luft- und Seestreitkräfte mit der Fähigkeit, einen Mehrfrontenkrieg zu führen, verleiht der NATO eine enorme Schlagkraft. Konventionell ist die NATO Russland überlegen. Die USA könnten die europäischen Landmächte mit ihren Landstreitkräften allerdings erst nach einem längeren Vorlauf verstärken. Deshalb ist es nicht sicher, dass sie den Ausgang eines konventionellen europäischen Krieges, wie er gegenwärtig diskutiert wird, bereits nach kurzer Zeit entscheiden könnten. Wenn aber keine Seite über die Fähigkeit verfügt, einen schnellen Sieg zu erringen, besteht die Gefahr, dass eine Seite Nuklearwaffen einsetzt, um eine Entscheidung zu erzwingen oder eine existenziell gefährliche Niederlage abzuwenden.
Möglicherweise ist die gegenwärtige Kriegsrhetorik ja nicht nur der Versuch, das bisherige Narrativ zum Kriegsverlauf zu rechtfertigen, sondern auch zu begründen, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen. Denn dass die Bundeswehr über die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen muss, ist ihr Verfassungsauftrag. Aber 2011 wurde mit der „Neuausrichtung der Bundeswehr“ eine Reform durchgeführt, deren Ergebnis die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung und die Reduzierung der militärischen Fähigkeiten auf Auslandseinsätze bedeutete. Begründet wurde dies damit, dass ein konventioneller Angriff auf Europa und Deutschland nach wie vor unwahrscheinlich sei. Zugleich wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Angeblich wegen mangelnder Wehrgerechtigkeit. In Wahrheit wurde aus finanziellen Gründen immer weniger Wehrpflichtige eigezogen.
- IX.
Das Ergebnis und der damit verbundene Verfassungsbruch wurden 14 Jahre hingenommen. Nun soll diese gravierende Fehlentwicklung korrigiert werden. Es ist jedoch nicht notwendig, den Kurswechsel mit einer Bedrohung zu rechtfertigen. Es reicht zu tun, was die Verfassung verlangt. Am besten, indem wir dazu beitragen, dass in Europa ein militärisches Gleichgewicht entsteht, denn dann verspürt niemand das Verlangen, einen Angriffskrieg zu wagen.
Um den Verfassungsauftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen zu können, muss die Bundeswehr über einen angemessenen Friedens- und Verteidigungsumfang, aufwuchsfähige Streitkräftestrukturen und eine moderne Ausrüstung und Bewaffnung verfügen.
Ohne die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist dies ausgeschlossen. Denn in der Vergangenheit wurden immer zwischen 50 und 60 Prozent des Regegenerationsbedarfs an länger dienenden Soldaten aus dem Wehrpflichtaufkommen gewonnen. Auch der Bedarf an Reservisten für den Aufwuchs zum Verteidigungsumfang kann nur durch die Wehrpflicht gedeckt werden. In Artikel 12a des Grundgesetzes heißt es zwar, „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften … verpflichtet werden.“ Aber das Bundesverfassungsgericht hat 1970 entschieden, dass die allgemeine Wehrpflicht durch das Grundgesetz als verfassungsrechtliche Pflicht normiert ist und zu den vom Bürger hinzunehmenden öffentlichen Lasten im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört.
Deshalb frage ich mich, wie die erforderliche Zahl an freiwillig Wehrdienst leistenden Bewerbern erreicht werden soll, wenn der Eindruck sich immer mehr verfestigt, dass sich diese jungen Soldaten bereits kurz nach ihrem Eintritt in die Bundeswehr in einem Schützengraben wiederfinden. Ich rege auch an darüber nachzudenken, ob wir alles richtig machen, wenn die Verteidigungsfähigkeit erst 2035 erreicht werden soll, der Feind jedoch – wie es heißt - schon morgen angreifen könnte. Merkwürde, dass die Politik diesen Widerspruch nicht aufzulösen vermag.
Deshalb möchte ich betonen, dass ein Gleichgewicht der Kräfte zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Frieden ist. Ein militärisches Gleichgewicht muss politisch stabilisiert werden, indem man mit der anderen Seite redet, um ihre Interessen, Absichten und Fähigkeiten besser einschätzen zu können. Hinzukommen müssen Abrüstungsverträge, Rüstungskontrolle und vertrauensbildende militärische Maßnahmen mit dem Ziel eines Gleichgewichts auf möglichst niedrigem Niveau. Dadurch werden politische Verhältnisse geschaffen, die – wie es Helmut Schmidt formulierte – die Vorhersehbarkeit des politischen Handelns ermöglichen. Also genau das, was wir in der gegenwärtigen Situation so dringend brauchen.
Das Problem der deutschen Politik besteht darin, diesen Zusammenhang nicht zu sehen. Sonst hätte sich die deutsche Außenpolitik längst das Ende des Ukrainekrieges durch Friedensverhandlungen sowie eine gerechte und dauerhafte europäische Sicherheits- und Friedensordnung als vorrangige Ziele gesetzt.
Unser Grundgesetz ist eine Friedensverfassung: Und es sind drei Säulen, auf denen die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik stehen müsste, und an die jede Bundesregierung gebunden ist.
Bereits die Präambel des Grundgesetzes weist den handelnden Politikern die Richtung: Deutschland soll „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.“
In Art. 24 Abs. 2 GG wird sogar die Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz an eine Bedingung geknüpft, der die Bundesregierung bei der Mitwirkung an Entscheidungen der NATO Rechnung tragen müsste: Es heißt, „der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“.
Und Art. 87a, Abs.1 bestimmt knapp und unmissverständlich: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Es heißt nicht, der Bund stellt Streitkräfte für den Krieg auf. Der Begriff „kriegstüchtig“ ist ambivalent und sowohl für einen Verteidigungs- als auch einen Angriffskrieg anwendbar. Die Verfassung ist jedoch glasklar, denn die Ergänzung in Abs. 2 lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“
- X.
Was folgt für die Ukraine – und was für uns?
1. Nur eine Friedensregelung, die den Interessen der Ukraine und Russlands entspricht und für die USA wie für Europa annehmbar ist, schafft die Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte europäische Sicherheits- und Friedensordnung. Dies wäre die größte „Sicherheitsgarantie“ für die Ukraine.
2. Deshalb ist entscheidend, dass Verhandlungen nicht länger an Maximalpositionen scheitern. Jede Seite wird schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen. Der Preis des Nicht-Verhandelns ist – das lehrt die Realität der letzten Jahre – höher als der Preis des Kompromisses. Für Europa heißt das: nicht noch einmal den Zug in Richtung Frieden verpassen. Eine militärische Niederlage Kiews oder eine ungeregelte Waffenruhe ohne politische Klammer würden die Sicherheitslage verschlechtern, nicht verbessern.
3. Selbstbehauptung Europas heißt: Verantwortung für unseren Kontinent in Frieden und Freiheit übernehmen. Nicht gegen die USA, nicht gegen Russland oder China, sondern für unsere Sicherheit und Wohlergehen, für ein berechenbares Europa, für eine internationale Ordnung, die Konflikte eindämmt, statt sie zu befeuern.
Henry Kissinger schrieb 2014 in einem Namensartikel, „in der öffentlichen Diskussion über die Ukraine geht es nur um Konfrontation. Aber wissen wir denn, wohin wir gehen? In meinem Leben habe ich vier Kriege erlebt, die mit großem Enthusiasmus und öffentlicher Unterstützung begonnen wurden, von denen wir alle nicht wussten, wie sie enden sollten, und aus drei davon haben wir uns einseitig zurückgezogen. Der Test für die Politik ist, wie sie enden, nicht wie sie beginnen.
Viel zu oft wird die ukrainische Frage als Showdown dargestellt: ob sich die Ukraine dem Osten oder dem Westen anschließt. Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“
Ich bin – trotz allem – grundsätzlich optimistisch. Nicht, weil die Lage einfach wäre. Sondern, weil die Vernunft am Ende eine Eigendynamik entwickelt, wenn man ihr Raum gibt. Lassen wir uns nicht treiben – weder von Wunschdenken noch von Angstnarrativen. Lassen wir uns auf dem Weg aus der unverantwortlichen Kriegslogik leiten von der Verfassung, von Verantwortung und Vernunft.
Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung von General a.D. Harald Kujat hier auf Phenixxenia.org.