Viele Köche (von Wolf-Dieter Batz)

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Viele Köche

(Wolf-Dieter Batz, 2014)

Mit eine Tasse Tee sitze ich morgens um sechs am Fenster und folge den Wolken. Ich sehe sie wandern, sich auflösen, sich zu neuen Gruppen vereinen, zu mächtigen Gebirgen sich auftürmen und immer wieder, ins Nichts verschwinden, einen sanften Schleier hinterlassend, der alsbald der Juni-Morgen-Sonne eine Leinwand für ihre phantastischen Licht- und Farbspiele bietet.

So an der Grenze des neuen Tages angelangt, erinnere ich mich an das neue Lied der phantasievollen Amsel, mit dem alles begann; aus dem alsbald ein Dialog mit einer Kollegin wurde, zu dem eine weitere hinzustiess und die nun alle in einem steten Wechselgesang vereint waren, der seinerseits aber bloß die Ouverture für den tausendstimmigen Chor aller gefiederten Baum-, Höhlen- und Nischenbewohner war, einem hyperharmonischen Opus mit dem die sanft schwindende Nacht dem noch ganz verletzbar weichen und unendlich formbaren Tag seinen Auftritt bereitet.

Patzig schimpfend leiten die Nihilisten das Finale ein; dem "Käckäckäck" der Elstern ist nichts gewachsen. Mit atonal-atempischen gleichwohl rhythmischen Provokationen beginnen sie, die Wolken des Gesangs aufzulösen, der mehr und mehr Lücken aufweisend, seinen Schlußakkord im gezogenen "Krah-Krah-Krah-Krah" der mächtigen Raben findet.

Die Stille beginnt. Die Nacht ist zu Ende.

Die Sänger sind inzwischen "On the Air" und bereichern das Spiel der Wolken mit kunstvollen Arabesken in der Zeit. Ihr Flug ist anmutige Tiefe, ist Imponieren und Improvisieren, ist Koordination, ist Kommunikation.

Ich folge Ihnen. Und bin weg.

Meine Mutter erscheint. "Was bist Du?" fragt Sie, und antwortet sogleich: "Mein Goldschatz!". "Woida" sage ich. Ein Goldschatz war mir noch kein Begriff, aber was ein "Woida" war, das wußte ich sehr gut. Meine Geschwister riefen mich so. "Woida Datz", das war mein Name, "Woida", das war ich. Ich war schon zwei Jahre alt. Die Sechziger hatten soeben begonnen.

Mein Vater kommt in die Küche und öffnet eine Tasche. Darin ein kleiner Holzreif. Ich ergreife das Ding und rolle es über den Küchenboden wie ein Rad. Meine Mutter ist auch da, beiden schauen sich an und grinsen. Mein Vater nimmt vier Kerzen aus der Tasche und steckt sie auf den Holzreif. Die kleinen Bohrungen hatte ich wohl gesehen, sie jedoch für eine nette wenngleich überflüssige Verzierung gehalten. Es war mein vierter Geburtstag.

Mein Bruder taucht auf. Er spricht mit meiner Mutter und ich weiß zunächst nicht, ob der ernsthafte Ton der beiden nun Böses oder Gutes ankündigt. "Meinst Du?" fragt sie schließlich, und ich erkenne, daß sie sich auf irgendetwas geeinigt haben. Mein Vater ist nicht da. Mein Bruder geht zum Musikschrank im Wohnzimmer und legt ein Schallplatte auf den Teller. Eric Burdon singt "House of the Rising Sun" und ich verstehe kein Wort. "Was singt der Mann da?" frage ich. Mein Bruder übersetzt den Text simultan. Ein Tor wurde aufgestoßen, meine Neugier wird maßlos, der Kindergarten gerät mir zur geistigen Einöde. Ich werde nie mehr hingehen.

Eine Tür springt auf. Drei Männer in weißen Hemden brüllen "Huäh!" und stürmen auf mich zu. Ich erschrecke und will gerade weinen, da werden ihre Minen freundlich, einer nimmt mich auf den Arm und tröstet mich. Es sind meine Brüder. Ich habe drei.

Meine Eltern sind im Theater "Uhlandbau", meine Schwester ist Babysitter. Sie bleibt nicht sitzen. Wir gehen aus. Eine Menge Leute umzingeln mich. Riesige Ungeheuer, mit merkwürdig tiefen, provozierenden Stimmen die einen, kichernd und albernd die anderen. Es ist saueng. Wir sitzen alle in einem Auto. Es ist kuschelig warm und es riecht nach Tabakrauch. Es ist schön.

Eine Postkarte ist eingetroffen. Aus Caracas. Meine Schwester ist dort. Neugier, Reiselust und Wandertrieb hatten sie einen Frachter besteigen lassen und der fuhr direkt dorthin. Das ist sehr weit weg. Ob sie wiederkommt? Ich habe zwei Schwestern.

"Grrr-Brrr" ruft es durch die offene Balkontür und ich begrüße meine Freundin, die Taube. Ihr Verehrer ist dabei und und sie stolziert zum Unterteller der Benjaminis für einen "Drink". Er kommt hinterher und gönnt sich einen nobel-verunsicherten Schluck. Liebe ist leicht.

Um "Schwere Jungs und leichte Mädchen" drehte sich unser Konfirmationsunterricht. Genau wie das Leben Jesus von Nazareths. Für Herrmann I. von der Paul-Gerhard-Gemeinde waren wir die Kinder von Summerhill. Nichts als Grundlage unseres Fühlens, Denkens und Handelns anzuerkennen, das nicht logisch bewiesen ist. So schlug er den Bogen aus der biblischen Geschichte bis zur Einsteinschen Physik, von unbefleckter Empfängnis bis zu Gottes Sohn in der Moderne. Theologie ist cool.

"Sie sind ein Träumer!", rügte mich Werner G. wenn er mich bei Unterrichtsbeginn auf der Fensterbank sitzend fand, während die anderen Skat kloppten und "Grang" oder "Durchmarsch" skandierten. Mathematik ist unterhaltsam und löst mehr Probleme als sie schafft. Das ideale Fach für einen Träumer also. Sie ist außerdem die einzige Disziplin, die Beweise kennt. Unverzichtbar also auch für alle mit unstillbarer Neugier. Wir wurden Freunde.

"Der Klassendurchschnitt ist..." nach 90 Minuten eisernen Addierens, Dividierens und Gewichtens nicht mehr als eine vage Schätzung. So phantastisch und unentrinnbar überzeugend hat mich die Kunst der Dialektik erobert. Ein Fuchs, Wolf-Dieter S., ein taktischer wie strategischer Meister darin, die mechanistisch fundierten Gewissheiten der Moderne in rosa Wölkchen aufzulösen, war ihr Mediator. In der Folge war mir "Der grosse Rösselsprung" nur noch die perfekte Vision der "atomisierten Masse". 1975 gab es weder Internet noch Smartphones, doch ich war vorbereitet. Danke, Quasi!

Psychologie heißt Seelenkunde, Psychotherapeuten sind Seelsorger. Unseren Pfarrer lies das kalt; was sind schon ein paar Jahrzehnte? Meinem Arzt jedoch versagte die Stimme beim Gedanken, mich vielleicht einmal "Kollege" nennen zu müssen. In derart verwirrtem Zustand hat mich Alexandre M. auf den Fluren des Heidelberger Friedrichsbaus aufgelesen und fortan, wo nötig, ermahnt: "Lies das nicht. Das ist hoch-un-interessant!" Überall lauern "Adverse Events" der geistigen Ernährung. Langsam kam ich auf die Beine. Aber sicher.

"Machen Sie kurze Sätze, oder wollen Sie ihre ganzen fruchtbaren Jahre an der Universität vertrödeln?" Manfred Z. von der Physiologie II im INF haßte die differenzierten und feinzieselierten Formulierungen der Sozial- und Geisteswissenschaftler. Wissenschaft ist das Stellen klarer Fragen und das Liefern ebensolcher Antworten. Mein Wunsch, dem Gedächtnis durch die Neurowissenschaften auf die Spur zu kommen hatte mich zu ihm geführt. Manche Antworten sind tatsächlich einfach.

Das 16er Tram klingelt zur Abfahrt und ich tauche fast auf. Bloß nicht zu schnell, denke ich, wegen des Schocks. Ob ich vielleicht besser ein Delphin geworden wäre?

Da steht plötzlich Phillip Moen vor mir und insistiert: "Du mußt was machen!" Der Norweger, den ich als weit über Siebzigjährigen kennenlernte, der, zurück aus Kanada, mit seiner jungen Frau Anfang 20 seinen bereits erwachsenen Kindern weitere Geschwisterchen hinzugesellte nachdem er zu Fuß durch Europa gewandert war, der mich bei dreissig Grad unter Null im Lada Geländewagen zu seinem Neubau fuhr, wo er in Betonbauweise ein Haus für die skandinavische Ewigkeit schuf, umrundet von breiten verglasten Galerien, die das Sonnenlicht einfangen und dem Haus einen immerwährenden Sommer mit Raum und Licht und Wärme garantierten, dieser Schrat, hatte – wie niemand sonst – das Recht, solches von mir zu verlangen. Phillip Moen, Alter-Ego meines Vaters. Ich liebe Euch.

Das alles ist heute passiert und es passierte schon immer, soweit meine Erinnerung reicht, wieder und wieder. Sie kommen mich besuchen und bereichern mein Leben. Ist das Religion? Seelenwanderung? Geister?

„Wir sind nicht-triviale Maschinen.“, tönt es vom Kybernetiker, „Wir sind das Ergebnis unserer Biographie.“, hört man vom Hirnforscher, „Wir sind die, mit denen wir umgehen.“, schreibt Doris Lessing.

Was für ein schöner Morgen!

Danke allen Mitwirkenden, Gracias a la Vida!

(Wolf-Dieter Batz)